Ein Schritt vor und zwei zurück?
"Revolutionen bringen gewöhnlich nur wenig Wandel", sagt die ägyptische Wissenschaftlerin Hania Sholkamy. Mit diesem auf den ersten Blick paradoxen Satz beschreibt die Anthropologin, die derzeit an der Amerikanischen Universität von Kairo (AUC) arbeitet, die Lage in Ägypten zehn Monate nach der Revolution.
Seit dem Sturz Mubaraks habe sich in ihrem Land nicht viel verändert. In den zentralen Bereichen sei alles beim alten geblieben. So sei die ägyptische Bürokratie, die das Leben der Menschen beherrsche, noch weiter angewachsen. Sechs Millionen Beschäftigte wachten nun darüber, dass sich an den juristischen und administrativen Strukturen nichts ändere.
Tendenz zum Konservatismus
Außerdem habe seit der Revolution der Konservativismus der Bevölkerung zugenommen. Immer mehr Menschen fühlten sich zu religiösen Strömungen hingezogen. Dies mache sich bemerkbar an der zunehmenden Anziehungskraft der Muslimbrüderschaft. Auch auf sozialer Ebene gäbe es keine positiven Entwicklungen. An der ungerechten Verteilung von Macht und Ressourcen in Ägypten habe sich nichts geändert.
Ähnlich sieht das Noha El-Mikawy, Politikwissenschaftlerin, die unter anderem an der Universität von Erlangen und an der Freien Universität von Berlin gelehrt hat und derzeit für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen arbeitet. Ägypten stehe vor gewaltigen Herausforderungen, sagt sie. Die Gesellschaft müsse einen Weg finden, die eigene Vergangenheit zu bewältigen, die Erfahrung von Unterdrückung und Unfreiheit zu verarbeiten und Voraussetzungen für eine bessere Zukunft zu entwickeln.
El-Mikawy ist skeptisch, ob dieses gewaltige Vorhaben gelingen kann. Gleichwohl sieht sie in den Massenprotesten in Ägypten eine positive Botschaft: "Die Revolution war ein Schrei nach Würde", sagt sie. Dieser Schrei lasse sich nicht mehr ersticken. Selbst wenn man auf dem Weg zur Demokratie mit vielen Rückschlägen rechnen müsse, werde sich die ägyptische Bevölkerung auch künftig nicht mehr am Protest hindern lassen.
El-Mikawy und Sholkamy sind auf Einladung der Grünen nach Berlin gekommen, um über die Lage in ihrer Heimat am Vorabend der ersten freien Wahlen am kommenden Montag (28.11.2011) zu berichten. Denn in Deutschland schaut man mit großer Sorge auf die Entwicklungen in Kairo, Alexandria und anderen Städten, in denen die Menschen seit Tagen wieder auf die Straßen gehen.
Akteure der "Generation Facebook"
Khalid Tallima war einer der Revolutionäre des 25. Januar. Mit seinen Freunden und mit Tausenden anderen Jugendlichen hat er die Demonstrationszüge und Protestkundgebungen organisiert, die im vergangenen Januar zur Besetzung des Tahrir-Platzes im Zentrum Kairos und im Februar zum Sturz Mubaraks führten.
Nun kandidiert er für einen Sitz im Parlament. Er tritt zwar als Unabhängiger an, will aber die Interessen der revolutionären Jugendlichen vertreten, die sich in einem Bündnis zusammengeschlossen haben. Dazu gehören nicht nur die westlich gesinnten Jugendlichen, die sogenannte Facebook-Jugend, sondern auch junge Muslimbrüder, die sich mit dem starren Konservatismus der älteren Generation der Islamisten nicht abfinden wollten.
"Wir wollen alle Strömungen vertreten", unterstreicht Tallima. Die "Coalition of the Youth Revolution", der er angehöre, sei ein Sammelbecken, das keine bestimmte politische Strömung repräsentiere. Sie sei die Vertretung der Jugendlichen aus allen politischen und religiösen Lagern und wolle deren Stimme und deren Forderungen zu Gehör bringen.
Wende zum Pragmatismus
Unterstützung bekommt Tallima von Abdelfattah Ismail. Der Politikwissenschaftler, der an der Universität von Kairo und an der Universität von Qatar in Doha lehrt, verspricht den Jugendlichen in Ägypten die Hilfe der Akademiker.
"Wir werden es nicht dulden, dass irgendeine Strömung ihre Ideologie durchsetzt, auch nicht, wenn sie die Mehrheit hat", betont er. Ismail ist Experte für den politischen Islam. Der Diskurs unter den Muslimbrüdern habe sich verändert, befindet er. Vor der Revolution hätten sie sich mit dem Regime mehr oder weniger gut arrangiert. Nun aber wollten sie eine aktive politische Rolle spielen und seien darauf zumindest organisatorisch gut vorbereitet.
Deutlich weniger konziliant seien die radikalen Salafisten. Auch sie verlangten Mitsprache im neuen Ägypten. Er glaube aber nicht, dass sie der ägyptischen Gesellschaft ihren Stempel aufdrücken könnten.
Diese Einschätzung teilt auch Sameh Fawzy, koptischer Bürgerrechtsaktivist und Journalist. Zusammen mit Tallima und Ismail besuchte er wenige Tage vor der Wahl in Ägypten die deutsche Hauptstadt und nahm in Berlin an einer Diskussionsveranstaltung der Deutsch-Arabischen Freundschaftsgesellschaft (DAFG) teil.
Der ägyptische Islam sei gemäßigt und respektiere andere Religionen, sagt er und verweist auf die Charta der Azhar-Universität über die Zukunft Ägyptens, an der er selbst als Vertreter der ägyptischen Christen mitgewirkt hat. In dem sechsseitigen Papier bekennt sich die führende religiöse Autorität des Landes zu einem demokratischen Rechtsstaat, in dem die drei großen monotheistischen Religionsgemeinschaften gleichberechtigt sind.
Das islamische Recht, die Scharia, diene zwar als Quelle der Jurisprudenz, die Gesetze aber würden im Parlament von Vertretern des Volkes gemacht. Gottesgesetze werde es im neuen Ägypten nicht geben, versichert Fawzy.
Skeptizismus und Hoffnung, Optimismus und Pessimismus halten sich die Waage bei den ägyptischen Besuchern, die in den letzten Tagen Deutschland besucht haben. Nur eines ist sicher: das Land am Nil steht vor einer ungewissen Zukunft.
Bettina Marx
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de