Zwischen allen Stilen und Stühlen
Der türkische Perkussionist und Komponist, Burhan Öçal, ist einer der Pioniere, die dem Westen die Vielfalt türkischer Musik vermittelt haben und im Gegenzug auch immer von Europa und Amerika lernen wollten. Stefan Franzen berichtet
Zwischen seiner Wahlheimat, Zürich, und dem Bosporus hin und her pendelnd, hat der thrakische Perkussionist und Komponist, Burhan Öçal, seine Spuren in buchstäblich allen Genres von Klassik über traditionelle Musik der Roma und Sufi bis hin zum Techno hinterlassen.
Nun hat er seinen Lebensmittelpunkt wieder nach Istanbul verlegt, um die derzeit besonders pulsierende Metropole mit seinen unorthodoxen Ideen zu bereichern. Sein neuestes Werk widmet sich dem großen Bazar der Stadt.
Eine Prägung ganz anderer Art
Wer Burhan Öçal gegenüber sitzt, der erfasst schnell die vielen Facetten dieser Persönlichkeit. Die notorisch getragene riesige Sonnenbrille deutet auf Machogehabe hin, seine Bewegungen jedoch sind eher die eines überdrehten Jungspunds. Und wenn er die Geschichte seines Lebens erzählt, wirkt seine Stimme sanft, ein wenig lyrisch.
"Mein Vater besaß in Istanbul ein Kino, in dem immer Roma als Schuhputzer arbeiteten und Kürbiskerne verkauften", erinnert er sich. "So bin ich mit ihnen und ihrer Musik ganz natürlich groß geworden. Außerdem hatte er das erste Jazzquartett der Stadt gegründet - daher kommt mein Faible für Jazz und amerikanische Filme aus der Clark-Gable-Ära.
"Von meiner Mutter dagegen habe ich Einblicke ins religiöse Leben mitbekommen. Ihre Familie stammt aus Konya, dem Zentrum der Sufi-Bruderschaften, und zuhause hat sie den Koran gesungen."
Zwischen Sufi-Klängen und Techno
Öçal sitzt in einem Hotel südlich von Basel, wo er auf Einladung des Festivals "Stimmen" mit Meistern der klassischen türkischen Musik ein eigens konzipiertes Programm von religiösen Hymnen, Koran-Rezitationen und Ausschnitten aus Derwisch-Ritualen präsentiert.
"Vor dieser tausend Jahre alten Tradition habe ich immer großen Respekt gehabt, und obwohl ich auch Pop und Techno mache, würde ich es nie wagen, die Sufi-Musik mit Show-Elementen zu kombinieren. Das wäre ja, als ob ich Bach-Kantaten im Bierzelt aufführen würde", ereifert er sich über die neue Mode des "Sufismus light", wie ihn seiner Meinung nach ein Mercan Dede pflegt.
"Ich kann Tabus brechen und moderne Werke machen, zeit- und grenzenlos sein und aus Altem Inspiration für Neues schöpfen – aber nicht etwas Heiliges für ein cooles Image zerstören."
Lässt man einige Stationen von Öçals Karriere Revue passieren, leuchtet ein, was er mit "grenzenlos" meint: Als Jugendlicher bastelte er sich sein eigenes Drumset aus Flaschen, Röntgenbildern und Plastiksäcken zusammen, leitete schon mit 14 seine erste Band als professioneller Schlagzeuger.
Er spielte Bebop, Zigeunermusik und Beatles und entwickelte auf der Darbuka, dem türkischen Perkussionsinstrument par excellence, eine eigene Technik. Sein Leben verlief fortan zwischen allen Stilen und Stühlen:
Im Jazz- und Fusion-Bereich ging er verschiedene Kollaborationen ein, spielte mit Joe Zawinul, dem Kronos Quartet, dem Funkbassisten Jamaladeen Tacuma und vermittelte mit seinem Freund George Gruntz zwischen der Türkei und Europa.
Sowohl in der türkischen als auch europäischen Klassik wirkte er rührig, vertont derzeit mit dem Frankfurter Ambient-Künstler Pete Namlook die Geschichte aller 36 Sultane des Osmanischen Reiches. Doch das Projekt, welches man in Europa zuallererst mit seinem Namen verbindet, ist das Istanbul Oriental Ensemble.
Als musikalischer Direktor gossen er und seine Roma-Musiker schon die Atmosphäre eines Harems und einer Karawanserai in einen opulenten Sound mit Hackbrett, Oud, Klarinette und Perkussion. Personell wie auch soundtechnisch verpasste er seiner Formation nun eine Frischzellenkur.
Das Herz Istanbuls
"Die neue Platte des Ensembles ist eine Widmung an Istanbuls großen Bazar Kapali Çarçi. Da wir rein instrumental arbeiten, musste also die Musik allein ohne Texte die Mitteilung machen, dass es hier um etwas Großartiges, Weitläufiges geht, und deshalb habe ich bei einigen Stücken eine Besetzung mit zwölf Streichern gewählt, um diesen orchestralen Klang zu bekommen."
Öçal kennt das Gewirr des Basars mit seinen täglich bis zu 300.000 Besuchern wie seine Westentasche. Für ihn schlägt hier das Herz des alten Istanbuls, in der Nachbarschaft vom Topkapi-Palast und der Hagia Sophia.
Der Modernist mit nostalgischen Zügen bedauert, dass dieses Istanbul immer mehr einem neuen Snobismus weicht: "Die Neureichen, die aus der Ägäis und aus Anatolien in die Stadt kommen und das schnelle Geld machen, sind eigentlich die größte Gefahr für den laizistischen Staat, noch mehr als die Fundamentalisten.
"Sie bereichern sich an unserer Geschichte, machen oberflächliches Modedesign aus osmanischen Figuren, ziehen gleichzeitig nach dem Vorbild Manhattans eine Architektur hoch, die für mich pure Umweltverschmutzung ist."
Doch Öcal wäre nicht an den Bosporus zurückgekehrt, würde er in dem momentanen "anything goes" in Istanbul nicht auch eine Chance sehen:
"70 Prozent der Türken sind unter 30. Menschlich, aber auch wirtschaftlich und kulturell haben wir ein riesiges Potenzial im Land. Es kommt jetzt darauf an, dass wir eine ehrliche, nicht korrupte Führung bekommen, dann könnten wir in zehn Jahren die ökonomischen und ethnischen Probleme bewältigt haben. Und dabei ist mir auch egal, ob wir in die EU kommen oder nicht. Hauptsache, es geschieht eine Entwicklung im Innern der Köpfe und jeder steht zu seiner Herkunft – dann ist es auch egal, ob einer Christ, Muslim oder Heide ist."
Stefan Franzen
© Qantara.de 2006
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• Die Website von Burhan Öçal
• Für eine aktuelle Diskographie siehe Zweitausendeins.de