Moralische Unterweisungen des Fernsehkommisars
Hichem Rostom ist den meisten Zuschauern als Film- und Fernsehschauspieler bekannt - nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch im Westen -, unter anderem durch Rollen in "Der Englische Patient" und in zahlreichen Produktionen der BBC. Martina Sabra hat sich mit ihm unterhalten.
Herr Rostom, welche Rolle spielt das Theater für Sie?
Hichem Rostom: Als Kind war ich kein großer Theaterfan. Ich ging lieber ins Kino bei uns um die Ecke, mindestens zweimal die Woche. Am besten gefielen mir Western und Kriminalfilme, aber auch Komödien. Damals träumte ich noch davon, ein Filmstar zu werden. Doch dann begann ich auf dem Gymnasium Theater zu spielen, und ich fand: 'Hey, das macht ja Riesenspaß!' Diese Leidenschaft ist immer mehr gewachsen.
Heute ist mir das Theater am wichtigsten. Ein Schauspieler ist für mich in erster Linie ein Theaterschauspieler. Ganz trennen kann man beides natürlich nicht, schon aus ökonomischen Gründen. Aber was das Künstlerische angeht, finde ich es wichtig, einen Unterschied zu machen, zwischen dem acteur, also jemandem, der fürs Fernsehen und fürs Kino spielt, und dem comédien, dem Theaterschauspieler.
Das tunesische Theater genießt international einen guten Ruf, und auch in Tunesien selbst ist Theater sehr populär, mehr als sonst in Nordafrika. Wie kommt das?
Rostom: Ich denke, das eine ist die Kulturpolitik des tunesischen Staates seit der Unabhängigkeit. Kultur war in Tunesien nie eine Privatsache, um die sich jeder selbst zu kümmern hatte, sondern wurde immer als eine notwendige öffentliche Dienstleistung verstanden, ähnlich wie die medizinische Versorgung. Das andere ist unsere besondere Geschichte, die Nähe zu Europa.
Beim Theater spielten die Italiener eine entscheidende Rolle, die im 19. Jahrhundert in großer Zahl in Tunesien lebten. Sie waren die ersten, die europäisches Theater nach Tunesien brachten. Architekten aus Italien bauten Ende des 19. Jahrhunderts auch die ersten Theater- und Opernhäuser im Land. Später trugen die Franzosen ihren Teil bei.
Gab es auch Einflüsse aus der arabischen Welt - Ägypten zum Beispiel?
Rostom: Die Ägypter waren sehr wichtig für die Verbreitung der Theaterkultur in Tunesien. Im Jahr 1905 war "Der Geizige" (L'Avare) von Molière das erste Bühnenstück, das auf Arabisch im Stadttheater von Tunis aufgeführt wurde. Das Ensemble war eigens aus Kairo angereist. Viele junge tunesische Schriftsteller und Schauspieler fühlten sich durch diese Aufführungen inspiriert und eiferten den ägyptischen Vorbildern nach.
Schon im Jahr 1909 wurde auch das erste rein tunesische Theaterstück aufgeführt, in tunesischem Dialekt und mit tunesischen Schauspielern. Die ägyptischen Theaterensembles blieben aber trotzdem populär, bis in die 1940er Jahre.
Wann nahm das moderne tunesische Theater seinen Anfang?
Rostom: Das moderne tunesische Theater entstand in den 1950er Jahren. Ali Ben Ayed war die Schlüsselfigur. Er hatte unter anderem Erfahrungen in England gesammelt, bei der Royal Shakespeare Company und er brachte auch als erster Shakespeare auf die tunesische Bühne. Ali Ben Ayed hat eine ganze Generation junger Theaterleute inspiriert, unter anderem auch mich: Meine Begeisterung fürs Theater hatte entscheidend mit seinen modernen Interpretationen von Klassikern wie Hamlet von Shakespeare, oder Caligula von Camus zu tun.
Wie wirkte sich die Unabhängigkeit des Landes auf das kulturelle Leben aus?
Rostom: Ich glaube, was ganz wichtig war, und was uns vom Nahen Osten unterscheidet, liegt in der Mentalität der kulturellen Eliten Tunesiens begründet. Sie glaubten nicht an den arabischen Nationalismus, sondern sie waren davon überzeugt, dass man eine kulturelle Elite brauchte, die im Ausland ausgebildet war. So kam es, dass ich zum Studium nach Frankreich ging, andere zogen nach England, wieder andere nach Italien. Das alles hat dazu geführt, dass die Generation meines Alters, die heute Theater in Tunesien macht, auf drei Schulen zurückblickt: die französische, die italienische, und die englische Schule.
Nach der Unabhängigkeit 1956 schossen die Theaterensembles jedenfalls regelrecht aus dem Boden. Heute spielen Kinder an jeder Grundschule Theater, es gehört einfach zum kulturellen Leben. Allerdings haben wir ein Problem: Das universale Repertoire ist für die junge tunesische Generation kaum zugänglich. Eine ordentliche Übersetzung von Brecht, von Tschechow oder anderen großen Theaterautoren finden Sie auf Arabisch kaum, die meisten Texte sind veraltet oder einfach schlecht übersetzt. Viele Jugendliche nutzen das Theater deshalb nur noch, um ihre persönlichen Probleme auszudrücken, ihren Alltag zu thematisieren.
Wie kann man diesem Mangel an guten Übersetzungen begegnen?
Rostom: Seit 2008 gibt es ein nationales Zentrum für Übersetzung, wo unter anderem bedeutende Texte der Weltliteratur ins Arabische übertragen werden sollen. Wir haben Professoren, die in der Lage sind, Stücke von Shakespeare ins Arabische zu übersetzen. Jedoch ist das eine langwierige Aufgabe, und man muss auch mit den Regisseuren zusammenarbeiten. Das geht nicht so "zwischen Tür und Angel". Wir versuchen jetzt, Geld vom Kulturministerium zu bekommen, um mit diesem nationalen Zentrum für Literaturübersetzung arbeiten zu können.
Sie spielen in Tunesien seit einiger Zeit in einer Fernsehkrimiserie einen Kommissar. Bislang wurden in arabischen Ländern kaum Krimis produziert. Warum?
Rostom: Das weiß ich auch nicht genau, aber es ist auch nicht so, dass es bisher gar keine Krimis gegeben hätte. Kojak und Derrick sind in Tunesien große Helden. Und schon Anfang der 1970er Jahre, das tunesische Fernsehen war gerade erst entstanden, gab es eine wöchentliche Serie mit dem Titel "Hilf uns suchen". Jede Woche gab es einen rätselhaften Fall, und das Publikum musste rausfinden, wer der Mörder war. Die Serie war ein Riesenerfolg, aber sie wurde abgesetzt, weil die Polizei sich nicht so angemessen dargestellt fand. Man befürchtete wohl, die Serie würde dem Ansehen der Polizei schaden. Es fanden sich nicht mehr so viele Regisseure, die sich dieser Kritik aussetzen wollten, und die Serie verschwand schließlich.
Wollen Sie nun an diese Tradition anknüpfen?
Rostom: Vielleicht ein Stück weit. Interessant ist, dass wir die Serie nur mit Zustimmung des tunesischen Innenministeriums drehen durften. Man wollte klarstellen, dass dieser Kommissar kein negatives Image hatte, und vielleicht dem Ansehen der Polizei schaden könnte.
Haben Sie als Fernsehkommissar ein Vorbild?
Rostom: "Derrick", der Fernsehkommissar aus Deutschland, ist mein großes Vorbild. Ich mochte ihn immer sehr und wollte eine ähnliche Figur schaffen. Mit dem Drehbuchautor und dem Regisseur habe ich die Drehbücher so überarbeitet, dass wir einen tunesischen Derrick geschaffen haben.
Der Kommissar ist oft nur ein Vorwand, ein roter Faden, der dem Publikum ermöglicht, eine gesellschaftliche Geschichte zu verfolgen - jemand, der soziale Konflikte verhandelt. Die Themen, um die es geht, sind oft Familienangelegenheiten. Über den Kommissar weiß man oft nicht viel. Er ist derjenige, der am Image der Familien kratzt, der den Dreck hervorholt - eben das, was in der Gesellschaft nicht stimmt. Das ist auch ein bisschen zu didaktisch manchmal.
Aber die Leute wollen das, sie wollen die Dinge nachvollziehen können. Ich selbst sage mir, Mensch, das ist doch von gestern, wir erzählen keine Geschichten, um den Menschen Lektionen in Moral zu erteilen. Aber die Menschen wollen wissen, warum man ihnen diese Geschichten erzählt, was die Person für Motive hat.
Hichem Rostom, Sie sind mit einer Französin verheiratet, haben die tunesische und die französische Staatsangehörigkeit. Was heißt für Sie "zuhause"?
Rostom: Frankreich hat mich sehr geprägt: Ich habe dort meine künstlerische Ausbildung gemacht, ebenso wie die ersten Schritte als Schauspieler und Regisseur, meine besten Freunde sind dort und meine Lieblingskneipen. Heute bin ich vier- bis fünfmal im Jahr in Paris. Dort tanke ich intellektuell auf, kann mein Bedürfnis nach Kreativität und Freiheit ausleben.
In Tunesien sind meine Frau, meine Kinder, meine Enkelkinder, die Alten aus meiner Familie. In Tunesien bin ich im "familiären" Sinn zuhause, bei "meinen Wurzeln". Ohne diese Wurzeln würde ich mich in Paris leer fühlen, aber ich brauche auch die intellektuelle und kreative Energie, die ich in Paris dann "auflade".
Interview: Martina Sabra
© Qantara.de 2009
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