Aufbruch und Stagnation zugleich

In den Augen pakistanischer Schriftsteller reflektiert ihre Literatur die gesellschaftliche Transition des Landes – politische Entfremdung des Individuums, Verlust von Tradition und der beginnende Zusammenbruch des Familiensystems.

Claudia Kramatschek berichtet

Straße in Islamabad, Foto: &copy irinnews
Pakistan ist eine Gesellschaft im Übergang - das gilt auch für thematisch-inhaltliche Orientierung der Schriftsteller und ihre oft schwierigen Arbeitsbedingungen

​​Während Pakistan derzeit zwischen säkularem Aufbruch und fundamentalistischer Gefährdung unter General Musharraf den Weg der Mitte sucht, dringt von der lebendigen Literaturszene des Landes nur wenig in den Westen vor.

Wer glaubt, Schuld daran sei die globale Marktsprache Englisch, liegt nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig: Denn bereits zwischen den fünf Regionalsprachen des Landes selbst – Urdu (die Amts- und Landessprache), Sindhi, Pashto, Panjabi und Belochi – herrschen noch immer Barrieren, wie Asif Farrukhi, Autor und Übersetzer in Karatschi, mit Bedauern erklärt:

"Die pakistanische Literatur befindet sich wie in einzelnen Boxen, weil es kein Übersetzungswesen gibt. Zudem hat jede der Regionalsprachen eine eigene literarische Tradition."

Lyrik – Königsgattung der pakistanischen Literatur

Gemeinsam ist allen fünf Literatursprachen, dass sie die Lyrik bis heute lieben; sie wird noch immer im Alltag, ja sogar während politischer Reden zitiert. Und auch der schreibende Nachwuchs pflegt die Lyrik – gilt sie doch, neben der Kurzgeschichte, als Königsgattung der pakistanischen Literatur.

Asif Farrukhi, Foto: &copy www.urdustudies.com
Wer sind wir, wohin gehen wir? - Pakistan ist eine Gesellschaft in einer Transitionsphase, die sich auch anhand von Literatur vergewissert, meint Asif Farrukhi

​​Die Themen dagegen sind zeitgemäß – und kritischer Natur: die Entfremdung des Individuums von "Vater Staat", der Verlust von Tradition, der beginnende Zusammenbruch des Familiensystems.

Somit spiegelt sich in der Literatur, dass Pakistan, so Asif Farrukhi, "eine Gesellschaft im Übergang ist", die sich ihrer selbst auch anhand von Literatur vergewissert: Wer sind wir, wohin gehen wir?

Gerade Autorinnen haben übrigens in den letzten Jahren den Markt auffallend wortmächtig erobert – wobei an Ismat Chugtai erinnert sei, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb, den Anfang der modernen Urdu-Prosa prägte und bis heute als gefeierte Feministin par excellence gilt.

Frauenliteratur

Und nur wenige Zeit später schrieb Qurratulain Hyder mit ihrer Prosa die explizit weibliche Geschichte der tragischen Teilung des Indischen Subkontinents. – Unter den heutigen Autorinnen sind vor allem zu nennen: Die Lyrikerinnen Fahmida Riaz, Kishwar Naheed (beide Urdu) oder Attyia Dawood (Sindhi); in der Prosa Khalida Husain oder Zaheda Hina (beide Urdu).

Fahmida Riaz, Foto: &copy www.urdustudies.com
Fahmida Riaz verstieß mit ihren Gedichten bewusst gegen männlich festgelegte Vorstellungen, was sich für eine Frau und Autorin in Pakistan nicht ziemt

​​Fahmida Riaz, Jahrgang 1946, veröffentlichte 1967 ihren ersten Gedichtband – und beschrieb explizit den weiblichen Körper und die weibliche Sexualität in eindeutigen Worten. Bewusst verstieß sie damit gegen die männlich festgelegte Vorstellung, was sich für eine Frau und Autorin (nicht) ziemt.

Den Preis für solche Freiheit hat sie bitter bezahlt: Sieben Jahre lebte sie im indischen Exil; 1989 erst kehrte sie nach Pakistan zurück und gründete 1997 unter dem Dach einer NGO namens WADA ("Women & Development Association") Pakistans ersten Frauenliteratur-Verlag.

Doch sei der Begriff des Feministischen, so warnt die Prosaautorin und Journalistin Zaheda Hina, die wie Fahmida Riaz in Karachi lebt, auf dem Subkontinent nicht nach westlichen Maßstäben zu bemessen – weil dort, so Hina, die Frauen schlicht mit dem Überleben beschäftigt sind. Die jüngere Autorinnengeneration interessiert dieser Kampf dagegen schon nicht mehr. Sie fürchtet eher eine "Ghettoisierung".

Generationenkonflikte

Einen anderen Generationenbruch beobachtet Kamila Shamsie, die mit dem Roman "Kartographie" (Berlin Verlag, 2004) auch im Westen bekannt geworden ist. Die 1973 in Karachi geborene, und nun zwischen den Staaten, London und ihrer Heimatstadt pendelnde Autorin verweist darauf, dass für die nunmehr Dreißigjährigen die Geschichte zwar noch immer ein literarisch ebenso wichtiges Thema ist, wie für die Väter- bzw. Müttergeneration.

Aber Geschichte bedeutet nicht mehr "1947". Für Shamsie und ihresgleichen ist es nunmehr wichtig, die blinden Flecken der jüngsten Geschichte ihres Landes zu benennen: etwa die Abspaltung des heutigen Bangladesh im Jahre 1971 und die dortigen Vergehen der pakistanischen Armee – wie beispielsweise im Roman "Noor" (Penguin India, 2004) von Sorayya Khan.

Diese jungen Autoren und Autorinnen schreiben übrigens zumeist in englischer Sprache. Ihre Situation ist aber eine ganz andere als im Nachbarland Indien. Zwar war der erste pakistanische Roman, der im Westen veröffentlicht wurde, auf Englisch geschrieben: "The crow eaters" von Babsi Sidhwa, der 1980 erschien.

Englisch im Zwielicht

Doch haftet dem Englischen noch heute in Pakistan ein deutlich stärkerer "Odem des nationalen Verrats" an, als seinerzeit in Indien, als Rushdie 1997 die regionalen indischen Literaturen als zweitrangig attackiert hatte.

In Pakistan – wo immerhin noch über 50 % der Bevölkerung Analphabeten sind – geriert sich der Erwerb und der Gebrauch des Englischen zudem als Klassenfrage: Denn Englisch ist die Sprache einer Minderheit – aber einer elitären und zugleich einflussreichen Minderheit, da sie wesentliche Teile der Gesellschaft ausmacht, etwa die Administration, das Rechtswesen, das Militär, das Hochschulwesen oder aber die Massenmedien.

So stellt sich die unliebsame Frage, wie sich der Vormarsch des Englischen auf die Werke der regionalsprachlichen Autoren auswirken wird.

Erschwert wird dieser mögliche Konkurrenzkampf durch einen literarischen Markt, der eigentlich keiner ist: Die Verlage haben nur knappe Mittel – wer ein Buch veröffentlichen will, muss die Kosten dafür selbst tragen.

Aus der Not eine Tugend machen

Vom Schreiben leben kann daher niemand – noch namhafte Autoren arbeiten zugleich als Professoren, Journalisten, Literaturkritiker. Kritiken lancieren zumeist die gängigen Namen.

Buchkritiken gibt es dabei in Fernsehen und Radio; Printmedien, wie etwa die Tageszeitung "Dawn" oder die Wochenzeitung "Friday Times" – beides englischsprachige Organe – bieten Buchsupplemente an.

Es gibt eine Handvoll Literaturzeitschriften. Die bekannteste und älteste ist "Funoon". Aber ein explizit literarisches Magazin – wie etwa "Biblio" oder "The Little Magazine" in Indien – gibt es nicht.

Asif Farrukhi hat daher aus der Not eine Tugend gemacht und mit "Duniyazaad" sein eigenes Magazin gegründet. Zwölf Ausgaben liegen bis dato vor, darunter Schwerpunkthefte zum 11. September oder dem Afghanistan-Krieg. Auch Ajmal Kamal, Herausgeber und Kritiker in Karatschi, ergriff 1989 die Eigeninitiative und gründete das vierteljährlich erscheinende Magazin "Aaj".

Die Situation scheint also insgesamt so paradox wie das ganze Land: Aufbruch – und Stagnation zugleich. Das gilt auch für die Gretchenfrage der Zensur. Manche der einstigen regimekritischen Literaten behaupten nun: Nie war die literarische Freiheit größer als unter Musharraf – ein Verrat in den Augen ihrer früheren Leser.

Zugleich aber beklagen viele Autoren, dass sie nie zuvor in ihrem Land so unwichtig waren wie jetzt. Nicht ganz so eindeutig zu beantworten ist aber die Frage: handelt es sich dabei um einen Raub oder eine Befreiung?

Claudia Kramatschek

© Qantara.de 2005

Qantara.de

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