Wege aus dem Extremismus
Es sind vor allem Eltern von Jugendlichen, die sich an "Hayat" wenden, manchmal sind es aber auch Lehrer oder Sozialarbeiter. Zumeist nehmen sie bei den Kindern Verhaltensänderungen wahr, die sie beunruhigen – beispielsweise wenn die Jugendlichen ganz plötzlich oft und regelmäßig beten oder sich von allen Familienfeiern abwenden.
Diese Ohnmacht oder Unsicherheit veranlasst viele Eltern dazu, sich zunächst telefonisch an "Hayat" zu wenden, manche von ihnen schauen auch gleich persönlich vorbei. Die ersten Gespräche dauern meist zwei bis drei Stunden, manche Beratungen ziehen sich sogar bis zu drei Jahre hin.
Die Reaktionen der Angehörigen auf die Entwicklung und Veränderung ihrer Kinder sind recht verschieden. Manche reagieren mit Unverständnis, manche haben Angst, dass sich ihr Kind salafistischen Kreisen zugewandt hat. Andere dagegen sind erfreut, dass ihre Kinder ein neues Interesse an der Religion gefunden haben, dass sie beten und "nicht mehr auf der Straße herumlungern", erklärt Claudia Dantschke, Leiterin der Beratungsstelle "Hayat" mit Hauptsitz in Berlin. Und Kaan Orhon, Islamwissenschaftler und "Hayat"-Berater in Bonn ergänzt: "Man muss unterscheiden zwischen Familien mit muslimischem Migrationshintergrund, dort nochmal in der Intensität in der eigenen religiösen Praxis, oder Familien, die keinerlei oder einen anderen religiösen Hintergrund haben."
In den Vertrauensgesprächen versucht der Berater der Islamismus-Beratungsstelle zunächst einmal, die Gefühle der Eltern besser zu verstehen und das Leben des auffällig gewordenen Jugendlichen näher kennenzulernen. Die Eltern "müssen uns gegenüber sehr offen sein - auch was inner-familiäre Krisen und Konflikte betrifft", erklärt Claudia Dantschke. "Wir wollen von dem Kind, das sich radikalisiert hat, das komplette Leben erfahren – was ihm fehlt und wo die Probleme liegen", so die Expertin.
Die betroffenen Jugendlichen sind zumeist keine Außenseiter, sondern in ihrem Umfeld mehr oder weniger anerkannt und integriert. Doch die Schwierigkeiten, die sie mit ihrer neuen vermeintlichen Glaubenspraxis zu lösen versuchen, sind – trotz ihres festen Freundeskreises – oftmals zwischenmenschlicher Natur. Oft fehlt die Vaterfigur oder aber es herrscht ein autoritärer Erziehungsstil. Auch fühlen sich manche dieser Jugendlichen in der Schule überfordert. Das, was sie dann für den einzig wahren Islam halten, wird dann als Lösungsweg und Sinngebung für das eigene Leben begriffen.
Unterschwelliger Radikalisierungsprozess
Die Unsicherheit und Perspektivlosigkeit dieser Jugendlichen ist meist wie ein "offenes Fenster", meint Claudia Dantschke. Es ist ein Vakuum, das – nicht selten durch eine zufällige Situation – von einer salafistischen Gruppierung ausgefüllt wird. Dies geschieht beispielsweise in Folge kostenloser Koranverteilungen auf der Straße, durch ein Wiedersehen mit alten Freunden oder Bekannten, die das Gespräch suchen, oder auch durch den Kontakt zu bestimmten Schulkameraden, die sich um ihre Mitschüler kümmern. Die Wege in die islamistische Radikalisierung verlaufen daher anfänglich weitgehend unterschwellig, sind oft zwischenmenschlicher Natur – genau wie die Probleme, denen sie auszuweichen versuchen.
Das Internet spielt erst später eine verstärkte Rolle, wenn die neuen sozialen Bindungen durch eine pseudo-religiöse Ideologie gefestigt werden und eine fundamentalistische sowie freiheitsfeindliche Gestalt annehmen.
Für die anfälligen Jugendlichen ist es ein neues, sinngebendes, gemeinschaftsstiftendes Erlebnis. In einem neuen Umfeld erfahren sie Anerkennung. "Alles ist nun egalitär, denn jeder kümmert sich hier - scheinbar - um jeden, etwas, was diese Jugendlichen meinen, früher noch nie erlebt zu haben", beschreibt Claudia Dantschke den Einstellungswandel.
Von der Konfrontation zum Austausch auf Augenhöhe
Es sind auch Sozialarbeiter und Lehrer, die sich in Einzelfällen an die Beratungsstelle wenden. Wenn sie eine gute Beziehung zu den Jugendlichen aufgebaut haben, ist das von Vorteil. Dennoch sei es wichtig zu versuchen, "die Eltern mit ins Boot zu holen", betont Claudia Dantschke. Diese müssten sich meist auf eine Veränderung im Umgang mit ihren Kindern vorbereiten. Es gehe darum, Verhaltensweisen zu verändern. Von der Konfrontation zu einem Austausch auf Augenhöhe mit den Kindern.
"Es gab manche Fälle, da haben die Eltern den Heranwachsenden den Koran und den Gebetsteppich weggenommen und deren neue Freunde denunziert", weiß die Expertin zu berichten. Man müsse ja nicht zu allen Verhaltensweisen der Kinder "Ja und Amen" sagen, ergänzt Kaan Orhon. Für die Beziehung zwischen Eltern und Kind sei es wichtig, Kritik im gegenseitigen Respekt zu äußern, damit sich der Heranwachsende der Auseinandersetzung und dem Dialog öffnen könne.
Von den 156 Fällen, die von der Beratungsstelle bearbeitet wurden, konnten 51 positiv abgeschlossen werden. Es gibt aber auch noch viele Patt-Situationen, wo sich nicht wirklich etwas bewegt: Entweder hatten sich die Angehörigen erst relativ spät gemeldet oder der Jugendliche hatte sich schon ins Ausland abgesetzt. Hier dauert die Beratung an, da sich immer wieder neue Entwicklungen ergeben können, auf die man dann reagieren kann, erklären die Salafismus-Experten von "Hayat".
Die Beratungsstelle stützt sich vor allem auf ein zivilgesellschaftliches, Demokratie orientiertes Lösungskonzept im Umgang mit radikalisierten Jugendlichen. Wenn eine extremistische Gruppierung andere Menschen aufgrund ihrer Gläubig- oder Ungläubigkeit abwertet und ihnen durch ihre Aussagen das Menschsein abspricht, "habe die Gesellschaft ihnen gegenüber eine Schutzpflicht. Und dieser Aufgabe versucht 'Hayat' zu entsprechen".
Dabei sei es wenig hilfreich, in reinen Aktionismus zu verfallen, betont Kaan Orhon. Vor allem in der Politik seien die Mittel begrenzt und den Vorbehalten und Ängsten allein gesetzgeberisch zu begegnen, verfehle oft das Ziel. Eher trete das Gegenteil ein: Restriktionen förderten vielmehr Radikalisierungstendenzen anfälliger junger Leute, als dieser Entwicklung entgegenzuwirken.
Die Islamismus-Beratungsstelle ist darum bemüht, radikalisierten Jugendlichen einen alternativen, friedlichen islamischen Diskurs aufzuzeigen. Gesellschaftliche Teilhabe und gelebte islamische Religiosität schließen sich dabei nicht aus, glaubt Kaan Orhon.
© Qantara.de 2015