Das Ausgeblendete wieder einblenden
Der junge Samir liebte das Geschichtenerzählen. Denn eine gute Geschichte erlaubte es ihm, in die Rolle seines Lieblingshelden zu schlüpfen. Am liebsten spielte er zwischen den Mauern der alten Zitadelle in seiner Heimatstadt Aleppo und stellte sich vor, er sei ein Held und das hier seine Burg – bis eines Tages Geschosse sein Zuhause trafen und seine Mutter im brennenden Kleid hinaus auf die Straße rannte. An diesem Tag hörte er auf zu sprechen.
Im Publikum herrscht Totenstille. Der Sprecher, ganz in Schwarz gekleidet, erzählt mit laut akzentuierter Stimme von Samirs Schicksal. Dann taucht aus der Dunkelheit eine arabische Melodie auf. Erst leise, dann immer lauter werdend, bis die Stimme aufdringlich wird und den ganzen Raum einnimmt.
Wie ein Klageweib singt sich die syrische Sopranistin Dima Orsho die Seele aus dem Leib. Musik und Erzählung werden gestützt von den fünf Kunstwerken, die nebeneinander auf der Bühne stehen. In lebendiger Farbigkeit sind dort alle Charaktere dieser Geschichten auf Leinwände gebracht worden.
Wüsste man nichts von der Schwere dieser Erzählungen, so könnten die Bilder von Golnar Tabibzadeh fast heiter wirken. Fabelhaft muten die bunten und mit lockerem Pinsel gemalten Motive an, die auf feinsinnige Weise illustrieren, was da gerade erzählt wird. Die Erschafferin dieser Darbietung auf dem Osnabrücker Morgenland Festival mit dem Titel "The Forgotten" ist eine lebensfrohe junge Künstlerin. Doch wenn sie von der Absicht hinter ihrem Projekt erzählt, wird Golnar Tabibzadeh ernst.
Die Realität hinter den Nachrichten
Mit "The Forgotten" wollte die iranische Künstlerin Golnar Tabibzadeh das, was auf der Welt passiert, persönlich gestalten: "Durch unsere ständige Bombardierung mit Informationen verlieren wir den Kontakt zur Realität, die hinter den Nachrichten steckt", so Tabibzadeh. Die Geschichten, die meist von Kindern handeln, fand Tabibzadeh in den Nachrichten und in den Sozialen Medien – umgeschrieben zu fesselnden Legenden, sollen Sie das Ausgeblendete wieder einblenden.
Als Tabibzadeh zum ersten Mal nach Deutschland kam, fiel ihr auf, in welchem Luxus die Menschen in Europa leben. "Mich überraschte aber auch, wie gut die Leute es hier verstehen, das zu vermeiden, was sie traurig macht", sagt Tabibzadeh.
"The Forgotten" ist eine Konfrontation mit der nackten Realität von Krieg, Tod und Hunger. "Nackt" – dieses Wort verwendet Golnar Tabibzadeh oft, wenn sie ihr Ideal als Künstlerin beschreibt. Nämlich, alle Masken und Kostümierungen fallen zu lassen und ihre innersten Gefühle auf der Leinwand zum Ausdruck zu bringen. "In einem Land wie dem Iran gewöhnt man sich daran, im Alltag schnell verschiedene Rollen anzunehmen. Daher war das Malen für mich ein Ventil vor dem Hintergrund vielschichtiger sozialer Zwänge", sagt Tabibzadeh.
Erzähltradition mit Bildern
Die wohl abgestimmte Mischung aus Bild und Erzählung hat Tabibzadeh aus dem "Naghali", einer alten iranischen Erzähltradition, übernommen. Früher waren die großen bemalten Leinwände des "Naghali" überall in den Straßen Irans zu sehen. Ein Erzähler schilderte anhand der abgebildeten Sequenzen seine Geschichte, entnommen zumeist aus den großen persischen Heldenepen oder den schiitischen Heiligenlegenden. Doch heute findet man die "Naghals" nur noch selten und wenn, dann in der Regel auf Bühnen. Die Bilder des "Naghali", erklärt Tabibzadeh, ähnelten jenen Gemälden, die in vielen europäischen Kirchen biblische Geschichten nacherzählen.
Golnar Tabibzadeh wurde vier Jahre nach der Islamischen Revolution in Teheran geboren. Ihr Kunststudium absolvierte sie in den Jahren nach der Präsidentschaft von Mohammad Khatami, der mit seiner vorsichtigen Reformpolitik auch für frischen Wind auf dem Kunstmarkt gesorgt hatte. Ihre eigene Generation versteht Golnar Tabibzadeh als Brücke zwischen der Künstlergeneration ihrer Eltern und den zeitgenössischen Künstlern: "Wir hatten eine Menge unterdrückter Energie in uns aufgestaut. Wir wollten Dinge verändern und etwas Eigenes schaffen."
Aufgeben oder vor Kreativität explodieren
Ihre erste Ausstellung hatte Tabibzadeh 2002 in einer Galerie in Teheran. Doch viele ihrer Bilder durften gar nicht erst in den Ausstellungsraum gelangen –das iranische Kulturministerium ("Ershad"), das jedes Kunstwerk prüft, bevor es der Öffentlichkeit gezeigt wird, nahm Anstoß daran. Die Hand der Zensur zwinge iranische Maler immer wieder neue Wege des künstlerischen Ausdrucks zu finden, um als Künstler überleben zu können. "Entweder führen die Einschränkungen dazu, dass man aufgibt, oder sie lassen einen förmlich vor Kreativität explodieren", meint Golnar Tabibzadeh.
Viele von Tabibzadehs Bildern zeigen Frauen in unterschiedlichen Lebenssituationen. Mal scheinen sie schutzlos und verzweifelt, mal tanzen sie leichtfüßig über die Leinwand.
Auch wenn Tabibzadeh keine politische Künstlerin sein will, so reflektieren ihre Motive zumindest die Erfahrungen der iranischen Frauen. Auf einem Bild etwa, das den Titel "Carpet Flowers" trägt, reckt eine übermäßig geschminkte Frau hilflos ihre Hände zum Himmel. Um ihren Kopf schweben Lippenstifte und Schminkdosen. Den Hintergrund schmückt ein Perserteppich mit Blumenmuster – der Teppich als iranischer Inbegriff von Tradition und ästhetischer Perfektion schlechthin.
Seit drei Jahren lebt Golnar Tabibzadeh nun schon im Ausland. 2011 zog sie zuerst nach Istanbul, heute wohnt sie in Berlin. "In Berlin fühle ich mich zuhause, auch wenn ich mir vorstellen kann, eines Tages wieder in den Iran zurückzukehren", erzählt sie. Denn der Kunstszene in Teheran, wo sie im vergangenen Jahr ihre letzte Ausstellung präsentiert hatte, fühle sie sich nach wie vor sehr verbunden. Am liebsten möchte sie "The Forgotten" bald auch in Teheran zeigen.
Am Ende der Aufführung in Osnabrück herrscht eine gedankenverlorene Stimmung im Raum. Die Betroffenheit des Publikums ist spürbar. Es dauert einen Moment, bis jemand zu klatschen beginnt. Erst einige Momente später zeigt sich Golnar Tabibzadeh dem Publikum und tritt mit ihren Erzählern auf die Bühne. "Genau diese Nachdenklichkeit ist es, zu der ich anregen wollte."
Marian Brehmer
© Qantara.de 2015