"Kinder sind keine Feinde"
Im Jahr 2005 wird der damals zwölfjährige Ahmad Khatib im Flüchtlingslager Jenin im Westjordanland von den Gewehrkugeln israelischer Soldaten getroffen. Man hatte seine Spielzeugpistole für eine echte Waffe gehalten und auf das palästinensische Kind geschossen. Ahmad erliegt wenige Stunden nach dem Angriff seinen schweren Verletzungen im Kopf- und Brustbereich.
Die Ärzte des Krankenhauses Rambam in Haifa konfrontieren den Vater mit einer schweren Entscheidung: Auch wenn sein eigener Sohn nicht überlebt habe, so könne Ismail Khatib doch mit den Organen Ahmads mehreren Kindern das Leben retten.
Die Entscheidung, die Organe seines soeben verstorbenen Kindes zu spenden, dürfte keinem Elternteil jemals leicht fallen. Im Fall von Ismail Khatib aber ging die Frage sehr viel weiter. Die Kinder, die Ahmads Organe erhalten sollten, stammten allesamt aus Israel.
"Kinder tragen keine Schuld"
Zur Überraschung der Ärzte verspricht Ahmads Vater, über den Vorschlag nachzudenken. Zwölf Stunden habe er dafür Zeit, so sagt man ihm im Krankenhaus. Khatib berät sich mit seinem älteren Bruder, holt den Segen des Imam von Jenin ein und bittet auch Zakaria Zubeidi, Chef der militanten Al-Aksa-Märtyer-Brigade und weltliche Autorität des Flüchtlingslagers in Jenin, um Erlaubnis. Nachdem alle der Transplantation zustimmen, gibt Ismail Khatib Herz, Lunge, Leber und Nieren seines Sohnes zur Organentnahme frei.
Kritik aus den Reihen der Nachbarn und Bekannten bleibt allerdings nicht aus. Wie er denn die Organe seines Sohnes dem Feind überlassen könne? "Kinder sind nicht meine Feinde, sie tragen keine Schuld", antwortet Khatib fast stoisch.
Drei Jahre nach diesen Ereignissen begibt sich der Regisseur Marcus Vetter mit Ahamads Vater, Ismail Khatib, auf eine Reise zu den Kindern, die durch die Organe seines Sohnes gerettet wurden. Der Film zeigt drei von fünf Begegnungen – zwei der Organempfänger wollen anonym bleiben.
Neben dem Drusenmädchen Sameh Gadban und dem Beduinenjungen Mohammed Kabua aus Negev gehört auch Menuha Levinson, die kleine Tochter einer ultraorthodoxen jüdischen Familie, zu den Organempfängern. Im Verlauf des Films, kurz bevor die Levinsons die Nachricht erhalten, dass man eine Spenderniere für ihre Tochter gefunden habe, rutscht dem Vater des kleinen Mädchens eine Bemerkung heraus: Lieber wäre es ihm, das Organ käme von einem jüdischen Kind. Später entschuldigt der Vater sich für diese Bemerkung.
Der Besuch bei den Levinsons gestaltet sich weniger herzlich als die Treffen mit den anderen Kindern, man merkt allen Beteiligten die Beklommenheit der Situation an.
Einseitige Darstellung
An dieser Stelle könnte man Marcus Vetters Film vorwerfen, eindimensional und parteiisch zu werden. Denn die bedrückende Begegnung mit den Levinsons, dem Inbegriff skeptischer, ultrakonservativer Juden, wird als schicksalsträchtige Schlussszene des "Herzen von Jenin" inszeniert. Ismail Khatib wird als Märtyrer dargestellt, der immer wieder betont, wie sehr gerade die Israelis von seinem Handeln überrascht und irritiert gewesen seien: "Das hat sie mehr durcheinander gebracht, als wenn ich ein Terrorist gewesen wäre."
Unerwähnt bleibt beispielsweise, dass man den kleinen Ahmad vom Lagerkrankenhaus in Jenin mit einem Hubschrauber der israelischen Armee ins Krankenhaus nach Haifa gebracht hat, weil man dort über die entsprechenden Mittel und Vorraussetzungen verfügte, das Kind womöglich noch zu retten. Oder dass es durchaus keine Seltenheit ist, dass palästinensische Kinder durch die Organspenden jüdischer Patienten gerettet werden.
Doch so einseitig oder plakativ "Das Herz von Jenin" auch stellenweise sein mag, so berührend ist es auch, zu sehen, welche Hoffnung und Zärtlichkeit in den Augen von Ismail Khatib liegt, wenn er die geretteten Kinder anschaut. "Ich sehe Ahmad in ihnen. In ihnen allen." Khatib und der Regisseur Vetter haben mit ihrem Film ein Zeichen gesetzt, dass Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern kein Luftschloss sein muss. Ein Film, der Hoffnung macht.
Wichtige Wiederaufbauarbeit
Auch nach Abschluss der Dreharbeiten geht die Arbeit für Vetter und Khatib weiter. Der Film wurde im vergangenen Jahr auf verschiedenen Festivals gezeigt und mit diversen Preisen ausgezeichnet. Der gelernte Automechaniker Khatib engagiert sich inzwischen hauptberuflich für die Kinder und Jugendlichen von Jenin. Mit Hilfe von Spenden hat er ein Jugendzentrum gegründet und verfolgt nun gemeinsam mit Marcus Vetter ein weiteres Projekt.
Das Vorhaben "Cinema Jenin" wird unter anderem vom Auswärtigen Amt, vom Goethe-Institut und diversen Filmproduktionsfirmen unterstützt. Ziel ist es, das einstmals größte Kino der Westbank wieder zu beleben.
Nach dem Ausbruch der ersten Intifada von 1987 musste das Kino, in dem bis zu 300 Gäste Platz finden, geschlossen werden, seither ist das Gebäude vollkommen zerstört. Zusammen mit den Jugendlichen aus der Umgebung wird das Kino nun renoviert und soll Ende 2009 mit einem Filmfestival eröffnet werden. "Wir wollen den Jugendlichen hier endlich wieder eine Möglichkeit der Beschäftigung und Kultur näher bringen, die nichts mit Gewalt und Hass zu tun hat", so Vetter und Khatib.
Rasha Khayat
© Qantara.de 2009
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