Kakophonie der Rufer

"Radio Muezzin" wurde in Kairo uraufgeführt und feierte nun auch in Berlin Premiere. Das Stück des Schweizer Regisseurs Stefan Kaegi zeigt das Leben von vier Gebetsrufern aus Kairo.

By Sonja Hegasy

Da lachen die Deutschen dann doch: als Mohammed Ali Mahmoud erzählt, dass er Rekordhalter im Dauer-Koran-Vorlesen ist und in Malaysia Vizeweltmeister im Koranzitieren wurde, staunt das Publikum über eine glamouröse Parallelwelt, von der die meisten bisher noch nicht gehört hatten.

Der smarte, junge Mohammed im Anzug hat Jura studiert. Seine Hobbys sind Gewichtheben und zum Gebet rufen. Letzteres hat er irgendwann zum Beruf gemacht. Und demnächst soll er zu den 30 Gebetsrufern mit den schönsten Stimmen gehören, die nach dem Willen der ägyptischen Regierung in Zukunft über Radiowellen in Kairo zum Gebet rufen sollen, um der Kakophonie der Rufer ein Ende zu bereiten.

Denn auch die Ägypter geben zu, dass nicht alle Stimmen schön sind. Es gibt Einpeitscher, deren Ruf sich auch für geübte Ohren so anhört, als ob es geradewegs in den Krieg gehen soll. So hat diese Maßnahme ihre Befürworter wie Gegner und wurde schon heftig im ägyptischen Parlament diskutiert.

Alltag der Muezzine

Im Zentrum von "Radio Muezzin" stehen vier ägyptische Muezzine: Hussein Gouda Hussein, ein blinder Koranlehrer mit Kleinfamilie, der jeden Tag zwei Stunden mit dem Minibus zur Moschee fährt, ein oberägyptischer Bauernsohn und ehemaliger Panzerfahrer namens Mansour Abdelsalam Mansour, der täglich den Teppich seiner Moschee saugt.

Dann wären da noch der Elektriker Sayed Abdel Latif Hammad, der nach einem Gastarbeiterleben in Saudi Arabien und einem schweren Unfall begann, den Koran auswendig zu lernen sowie der Bodybuilder Mohammed Ali Mahmoud, dessen Korankassetten und Poster sich großer Beliebtheit erfreuen. Wie ein Popstar wird er gefeiert.

"Radio Muezzin" lässt sie alle einem Ingenieur begegnen, der am Assuan-Staudamm gelernt hat, Radiosignale zu verschlüsseln. Auf der Bühne stellen sie ihr Leben seit ihrer Kindheit vor. Nur der Bauernsohn kann keine Fotos aus seiner Jugend zeigen, denn in seinem Dorf gab es damals niemanden mit einer Kamera. Benötigte er ein Passfoto für offizielle Zwecke, dann musste er in das nächstgelegene Städtchen fahren.

Alle vier Biographien spiegeln das normale Leben in globalisierten Zeiten wider – der Elektriker arbeitete auf der Baustelle eines Hotels gleich neben der großen Moschee in Mekka, der Bodybuilder reist um die ganze Welt, von einem Rezitationswettbewerb zum nächsten.

Kein ritualisiertes religiöses Leben

Nur hat sich hierzulande inzwischen in vielen Köpfen festgesetzt, dass gläubige Muslime keinen Spaß verstehen und auch sonst eher rückwärtsgewandt und weltfremd leben würden. Aber es ist eben kein völlig ritualisiertes religiöses Leben, das Rimini Protokoll zeigt: klar hören sie alle gerne Koranrezitationen – aber noch lieber hören sie natürlich Fußballübertragungen im Radio.

Die Leistung von Stefan Kaegi besteht darin, genau diese Lebenswelten auf die Bühne zu bringen: Die Männer sprühen vor Witz. Ähnlich wie in dem deutschen Film "Bis zum Ellenbogen" setzt der Elektriker Sayed auf der Bühne eine saure Gurke unter Strom.

Zumindest die Freude darüber scheinen Männer weltweit gemeinsam zu haben. Sayed entspricht mit seinem weißen Bart am meisten dem gängigen Stereotyp vom muslimischen Fundamentalisten. Am Ende aber ist er es, der am meisten Frohsinn verbreitet und die Bühne mit Kusshänden verlässt.

Gelungen ist auch die Idee, auf die "global umma", die weltweite Gemeinschaft der Gläubigen von Chicago bis Sydney, zu verweisen, in dem einmal gezeigt wird, wann – gemäß lokaler Zeit Kairo – rund um die Welt das Morgengebet verrichtet wird und was die vier Muezzine in dieser Zeit tun. Einen "überraschend souveränen Eindruck" machen die Muezzine dabei nur auf diejenigen, die die muslimische Welt nicht kennen.

"Geskriptete" Realitäten

"Dokumentar-Theater" heißt das Grundkonzept und Rimini Protokoll nennt seine Protagonisten "Experten des Alltags". Der Text selbst entsteht – wie schon im Namen angedeutet – im Protokollieren. Seit 2000 machen Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel nach einem Studium der angewandten Theaterwissenschaft in Giessen gemeinsam unter diesem Namen Theater.

Florian Malzacher nennt es "geskriptete Realität": "Selten spricht hier jemand wie ihm der Schnabel gewachsen ist, selten wird Text improvisiert. Vielmehr hat die spezifische Theaterarbeit von Haug/Kaegi/Wetzel zu einer spezifischen Textsorte geführt. Die Realität muss 'geskriptet' werden." 2007 wurden sie dafür mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet.

Im Hintergrund der "Radio Muezzin"-Aufführung laufen Filme über den Alltag der vier Muezzine und ihrer Familien. So sind die Vorarbeiten des Schweizers Stefan Kaegi vielleicht noch beeindruckender, als die reine Aufführung. Heiko Sievers vom Goethe-Institut in Kairo holte Kaegi vor gut einem Jahr in die Stadt.

Kaegi sprach mit über 40 Muezzinen, von denen keiner das Projekt abstrus fand und nicht mitmachen wollte. Nur das Ministerium für religiöse Angelegenheit war nach der ersten Aufführung nicht sehr angetan, ließ der Bühnentour dann aber ihren Lauf. Das Ministerium wollte nicht gerne, dass die Muezzine über ihre spärlichen staatlichen Gehälter berichten und befand, dass sie nicht die geeigneten Repräsentanten ihres Landes darstellten.

Doch hierbei entgeht ihnen der springende Punkt eines repräsentations-kritischen Bühnenstücks, denn schließlich geht die Aufführung nicht zur Berliner ITB sondern ans Theater Hebbel am Ufer. Ob die ägyptische Regierung ihren Plan von der Vereinheitlichung der Stimmen umsetzen wird, ist mehr als fraglich.

Sonja Hegasy

© Qantara.de 2009

Qantara.de

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