"Die Stimmen junger Kopftuchträgerinnen werden ignoriert"

Schirin Amir-Moazami analysiert in der Studie "Politisierte Religion. Der Kopftuchstreit in Deutschland und Frankreich" die Logik hinter den Debatten um das islamische Kopftuch in staatlichen Bildungseinrichtungen.

Interview by Nimet Seker

​​Seit Jahren erregt das islamische Kopftuch in Europa die Gemüter. Wie würden Sie die Diskussion in Deutschland und Frankreich charakterisieren?

Schirin Amir-Moazami: Es geht bei den Diskussionen um das Kopftuch nicht allein um die müßige Frage, ob eine Kopftuch tragende Lehrerin oder Schülerin nun am staatlichen Schulwesen teilhaben sollte oder nicht. Die Kopftuchdebatten sind vielmehr ein Symptom für grundlegende Auseinandersetzungen um den Status der Religionen und um das Religionsverständnis in europäischen Gesellschaften, die lange Zeit an die selbstheilende Kraft der Säkularisierung geglaubt haben.

Die Debatten um das Kopftuch zeigen jedoch, dass der Religionsstatus keineswegs einheitlich geklärt ist. So besteht zwar europaweit eine gewisse Einigkeit darüber, das Kopftuch als illegitimen Ausdruck von Religiosität in bestimmten öffentlichen Sphären zu deuten. Welche Version von Religion der angeblich zu sichtbaren Religiosität des Kopftuchs aber entgegensteht, ist trotzdem eher diffus Insofern hat die öffentlich sichtbare Präsenz einer "anderen" Religionsgemeinschaft Fragen auf die politische und mediale Tagesordnung gerückt, die durchaus brennend sind.

Inwiefern unterscheidet sich der Diskurs in Deutschland und Frankreich?

Amir-Moazami: Frankreich kennt mittlerweile schon fast eine Tradition der Kopftuchdebatten. Dort kreiste die Diskussion vor allem um das Verständnis von laïcité – also der französischen Variante von Säkularität. Laïcité meint in Frankreich mehr als die Trennung von religiösem und politischem Raum.

Eine Reihe von Autoren interpretieren den Begriff im Sinne der Religionsfreiheit und damit als Gewähr für den religiösen Pluralismus in der Öffentlichkeit. Gegenwärtig scheint die laïcité aber eher zu einem Instrument der staatlichen Kontrolle über religiöse Angelegenheiten geworden zu sein. Indem der Staat religiösen Symbolen verbindliche Inhalte zuschreibt und über die Grenzen des Zulässigen bestimmt, reicht diese Kontrolle bis in die intimste Sphäre der Individuen hinein.

Ganz entgegen des ersten Anscheins geht es also ganz und gar nicht um eine strikte Trennung zwischen religiöser und politischer Sphäre, sondern eher um die politische Kontrolle des religiösen Feldes.

In Deutschland spannt sich die Diskussion vor allem um das Neutralitätsgebot und um die Tugenden von Beamten, die sich im staatlichen Schuldienst dieser Neutralität zu verschreiben hätten. Neutralität meint zunächst eine Abwesenheit von religiösen Ausdrucksformen in der Öffentlichkeit.

Hier haben aber nicht zuletzt die verschiedenen Gesetzesinitiativen auf Länderebene dafür gesorgt, dass das "christlich-abendländische" Erbe wieder ins Bewusstsein der Bevölkerung gerückt ist. Die Bezüge zur eigenen Tradition sind hier weitaus diffuser als in Frankreich.

Inwiefern kommen muslimische Frauen in der Diskussion auch zu Wort?

Amir-Moazami: Es wird oft beanstandet, die Diskussion fände über und nicht mit muslimischen Frauen statt. Das stimmt aber so nicht. Vor allem in Deutschland stand die Lehrerin Fereshta Ludin, um die sich die Diskussion entfacht hat, durchaus lange Zeit im Licht der Öffentlichkeit.

Es wurde nicht nur über sie geredet, sondern auch mit ihr. Wer sie hören wollte, konnte sich ein Bild von ihr machen und von ihren Motiven, das Kopftuch zu tragen. Das Problem war aber, dass die meisten meinungsbildenden Stimmen sie nicht hören wollten. Ihre Positionen wurden entweder als Ausnahme dargestellt oder als taktiererisches Spiel, hinter dem sich letztlich "islamistische" Motive verbargen.

In Frankreich scheint diese Ignoranz gegenüber den Stimmen frommer Muslime noch ausgeprägter zu sein. Dort bemüht sich der Staat schon seit geraumer Zeit, die Belange von Muslimen zu regeln. Doch tut er dies stets unter dem Aspekt, religiös-kulturelle Differenz letztlich zu normalisieren.

Die Kopftuchdebatte ist dabei nur ein kleiner Ausschnitt. Sie ist aber vielleicht deshalb so prekär, weil sie auf dem Rücken junger Musliminnen ausgetragen wurde, für deren Belange sich externe Akteure einsetzen zu müssen glaubten. Die Rhetorik war dabei teilweise verblüffend. Einige Politiker und Intellektuelle behaupteten, sie wüssten im Grunde besser, was in den Köpfen junger muslimischer Mädchen vorgehe, als diese Mädchen selbst.

Obwohl politische Entscheidungen bezüglich des Kopftuchs von Lehrerinnen und Schülerinnen in Deutschland und Frankreich bereits gefallen sind, geht die Diskussion um das Kopftuch weiter. Wie wird Ihrer Einschätzung nach die Diskussion in Zukunft weiter geführt werden?

Amir-Moazami: Vor allem in Frankreich scheinen sich viele Frauen mit dem Kopftuchverbot an staatlichen Schulen auf die eine oder andere Weise arrangiert zu haben. Akzeptiert haben sie es deshalb sicher nicht, und ein gewisser Unmut gegenüber einer als willkürlich empfunden Politik bleibt sicher bei vielen jungen Muslimen bestehen.

In Deutschland wird es künftig zweifellos weitere Fereshta Ludins geben, die an die Tür des Verfassungsgerichts klopfen und neue Diskussionen entfachen. Ich habe den Eindruck, dass hier das Bewusstsein unter Muslimen, von ihren staatsbürgerschaftlichen Rechten Gebrauch machen zu können, erst im Anfang begriffen ist. Das müssen all jene erst einmal verdauen, die noch immer von "ausländischen Mitbürgern" oder von "Menschen aus anderen Kulturkreisen" sprechen.

Muslime sind bereits integraler Bestandteil beider Gesellschaften. Doch dass sie gleiche Rechte wie andere Religionsgemeinschaften einfordern, wird ihnen sicher auch künftig als Übertritt über bestehende Rechtsordnungen ausgelegt. In beiden Gesellschaften werden sich Konflikte also weiterhin an der Frage entzünden, wie viel Islam im öffentlichen Leben zulässig ist und wo die Grenzen der Sichtbarkeit sind.

Es bleibt zu hoffen, dass sich die Entscheidungsträger künftig nicht wie bei der Kopftuchfrage von vorgeprägten Schemata leiten lassen. Dazu gehört vor allem eine Reflexion von vereinheitlichenden Darstellungen der eigenen Wertevorstellungen.

Wie könnte man muslimische Frauen mehr in die Diskussion einbringen?

Amir-Moazami: Muslimische Frauen sind ja bei den Diskussionen nicht mehr gänzlich abwesend. Selbst fromme und öffentlich sichtbare Musliminnen nicht, wenngleich Frauen wie Necla Kelek in der Öffentlichkeit eindeutig stärkeres Gewicht haben als z.B. Kopftuch tragende Frauen.

Ich erlebe es aber zunehmend, dass bedeckte Frauen auf den Podien von "Dialogveranstaltungen" sitzen und sich geduldig um Verständigung und Verständnis bemühen. Der Ablauf solcher Veranstaltungen ist aber leider fast immer wieder derselbe. Die Frauen äußern sich, zerstreuen Punkt für Punkt die Vorbehalte, und dennoch glaubt man ihnen nicht.

Die in westlichen Gesellschaften so gepriesene Rede- und Meinungsfreiheit bedeutet also nicht, an sich auch "gehört" zu werden. Es müsste sich also vor allem an den Wahrnehmungen etwas ändern und an der Art und Weise, wie Öffentlichkeiten funktionieren, vor allem in den Medien. Das ist aber ein langer Prozess. Denn die leitende Frage bei den meisten Diskussionen ist immer noch, ob sich Muslime an Europa angleichen können. Vielleicht sollte aber auch die Frage gestellt werden, ob sich die Institutionen und Ideologien Europas an eine moderne Welt angleichen können, in der kulturell heterogene Einwanderer ein fester Bestandteil sind.

​​Interview: Nimet Seker

© Nimet Seker 2007

Schirin Amir-Moazami: "Politisierte Religion. Der Kopftuchstreit in Deutschland und Frankreich." Transcript Verlag 2007, 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-410-2

Schirin Amir-Moazami (Dr. phil.) arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kultur- und Sozialanthropologie der Viadrina in Frankfurt/Oder. Sie forscht zu Geschlechtervorstellungen in der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs.

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