"Die islamischen Fundamentalisten verstehen Kritik als Aggression"

Der marokkanische Philosoph Mohamed Sabila verlangt von der arabischen Welt mehr Selbstkritik. Doch auch der Westen spielte nicht nur eine Vorreiterrolle spielte, sondern trat auch als Kolonialmacht auf.

Interview by Nikola Richter

​​Herr Sabila, ist die islamische Welt dabei, sich zu reformieren?

Mohamed Sabila: Jede Gesellschaft der Welt hat ihre inneren Spannungen. Jede muslimische Gesellschaft wird von zwei Kräftepolen bestimmt. Auf der einen Seite stehen die reaktionären Kräfte, die sich an der Vergangenheit orientieren. Sie ziehen der geschichtlichen Fortentwicklung die Rückbesinnung auf eine goldene Zeit vor.

Vielleicht ist das ein Kompensationsmechanismus angesichts der harten Wirklichkeit. Auf der anderen Seite gibt es fortschrittliche Kräfte, moderne Intellektuelle und bestimmte politische Strömungen. Sie sind überzeugt, man müsse in die Zukunft blicken und sich mit fortschrittlicheren Gedanken auseinander setzen.

Wie wird der Begriff Fortschritt im Islam definiert?

Sabila: In der islamischen Kultur wird vor allem das Wort Erneuerung gebraucht. Der Terminus Fortschritt ist recht neu, er entstand auch in der westlichen Kultur erst im 18. Jahrhundert. Die stark rational geprägte Philosophie der Aufklärung begreift den Fortschritt als historische Weiterentwicklung der Menschheit. Fortschritt ist jedoch eine langsame, natürliche Entwicklung einer jeden Gesellschaft und auch generell der Menschheit. Denn Gott schuf den Menschen und die Gesellschaften mit dem Ziel, dass sie sich weiterentwickeln.

Was halten Sie von der These, dass Christentum und Konfuzianismus die industrielle Entwicklung begünstigten, aber der Islam sie bremse?

Sabila: Jeder Religion liegen spezifische Vorstellungen von der Welt, der Gesellschaft und der Geschichte zugrunde. Innerhalb einer Religion finden sich sowohl progressive Deutungen, Ideen im Sinne der Toleranz, aber auch Gedankengut, auf dem sich Vernichtungsideologien aufbauen lassen. Auch Christentum, Judentum und andere Religionen weisen diese Dichotomie auf. Alles Weitere hängt von den gesellschaftlichen Autoritäten ab und deren Interpretation des religiösen Textes. Der Koran enthält Texte über Toleranz, Verständigung und Frieden – das Wort Islam geht übrigens aus dem Wort Frieden hervor –, aber man findet auch Passagen, die Kampfgeist oder Krieg predigen. Leider hat die Entwicklung der islamischen Gesellschaften zugelassen, dass Fortschritt zunehmend verweigert wird.

Heißt das, dass auch industrieller Fortschritt abgelehnt wird?

Sabila: Nein. Islamisches Denken im Allgemeinen schließt technische Innovation nicht aus. Die Ablehnung bezieht sich vor allem auf das westliche Denken. Das sieht man genauer an den Golfstaaten, etwa am technologisch fortschrittlichen Saudi-Arabien. Dank des lukrativen Ölgeschäfts findet man dort den letzten Schrei der Technologie. Auf kultureller Ebene aber findet keine Öffnung statt. Die Auseinandersetzung mit westlichen Theorien, und vor allem der Philosophie, ist tabu. Rationale Analysen, die wirtschaftliche, politische und soziologische Bedingungen einer Gesellschaft beleuchten könnten, und jegliche Kultur, die Tradition und Religion in Frage stellt, werden abgelehnt.

Seit 1980 sind Sie Berater im Ministerium für Menschenrechte in Marokko. Ist die Anwendung der Menschenrechte eine Bedingung für eine moderne Gesellschaft?

Sabila: Ja. Für eine Gesellschaft, die im Begriff ist, ihre Politik und ihre politische Kultur zu modernisieren, sind die Menschenrechte grundlegend. Das Respektieren der Menschenrechte ist zum Beispiel in der Präambel der marokkanischen Verfassung verankert. Man kann aber nicht alles auf einen Schlag verändern. Das wäre ein zu großer Schock für unsere Gesellschaft und die traditionelle Kultur. Im Großen und Ganzen setzen sich aber die Machtelite, die Intellektuellen und die Zivilgesellschaft verstärkt für die Einhaltung der Menschenrechte ein.

Welchen Einfluss haben nicht-traditionelle Strömungen in Marokko?

Sabila: Zu nennen sind vor allem die nationalistischen Kräfte, aber auch sozialistisch orientierte Parteien, die ehemals kommunistische Partei, linke Splittergruppen sowie eventuell auch Untergruppen der gemäßigten Islampartei (PJD), der Partei, die sich am vehementesten für die Unabhängigkeit eingesetzt hat. Auch die Intellektuellen spielen eine wichtige Rolle. Und vor allem die Zivilgesellschaft sowie die Menschenrechtsorganisationen.

Handelt es sich bei diesen Strömungen um eine gesellschaftliche Minderheit?

Sabila: Nein, es handelt sich um mehrere Parteien. Sie haben gut bei den Wahlen abgeschnitten. Einige von ihnen sind sogar an der Regierung beteiligt. Sie repräsentieren etwa ein Drittel der marokkanischen Bevölkerung. Aber das Wirken der Modernisierungskräfte ist nicht nur auf ihre Quantität zurückzuführen sondern auch auf die Qualität: ihr Handeln. Sie werden mehr oder weniger von der Regierung gestützt, die versucht, einen modernen Islam zu entwickeln.

Sie sind bekannt dafür, dass Sie mehr Fähigkeit zur Selbstkritik in der islamischen Welt fordern.

Sabila: Wenn ich von Selbstkritik spreche, meine ich, dass das muslimische Kulturerbe einer historischen und rationalen Kritik unterzogen werden muss. Es bedarf immer, und vor allem im Bereich der Human- und Sozialwissenschaften, eines Blickes von außen, der sich auf die Errungenschaften des menschlichen Wissens stützt. Bei der Selbstkritik der islamischen Welt geht es sowohl um interne als auch um externe Kritik. Die islamischen Fundamentalisten verstehen Kritik als Aggression, da sie sich auf entliehenes Gedankengut aus dem Westen stützt.

Bedarf es auch einer Kritik am Westen?

Sabila: Ja. Denn das, was als Westen bezeichnet wird, ist vielschichtig. Es gibt mindestens zwei Komponenten: zum einen den Westen als Avantgarde der Menschheit, als Vorreiter wissenschaftlicher Errungenschaften; zum anderen ist der Westen als repressive Kolonialmacht konnotiert. Denker wie Foucault oder Adorno und die Frankfurter Schule haben die instrumentelle Vernunft und ihre Tendenz zur externen wie auch internen Ausbeutung kritisiert. Wenn die Extremisten uns sagen, der Westen verkörpere Repression, entgegnen wir ihnen, dass man die Ideologie, also den Machtwillen, vom wissenschaftlichen Fortschritt unterscheiden muss.

Auch in der arabischen Welt gab es in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Bewegung für kulturelle und politische Renaissance. Die ägyptische Revolution war die Frucht dieser Öffnung gegenüber dem Rest der Welt. Nach der Besetzung Palästinas und den Aggressionen einiger Westmächte 1956 hat sich die öffentliche arabische Meinung jedoch ins eigene kulturelle Erbe geflüchtet.

Ist also die Kolonialisierung die Quelle von heutiger Feindlichkeit gegen den Westen?

Sabila: Ja. Vor dem Hintergrund des Kolonialismus empfinden die meisten Muslime die Besetzung Palästinas als eine Fortführung der Religionskriege. Die islamistische Reaktion will im Kolonialismus nur die negativen Seiten sehen. Allerdings hat er zwei Gesichter. Er war sowohl Aggression als auch Fortschrittsfaktor. Auf der kapitalistischen Suche nach Märkten entwickelten sich die ursprünglichen, traditionellen und sogar primitiven Wirtschaftsformen weiter: Infrastrukturen wurden aufgebaut, wie in Marokko beispielsweise die Eisenbahn und Straßen, moderne Schulen eingerichtet und die Emanzipation der Frauen gefördert.

Welche Veränderungen wünschen sich die Menschen in der arabischen Welt?

Sabila: Eine traditionelle Gesellschaft ist natürlich durch ihre Vergangenheit, ihre Kultur und ihre Vorstellungen geprägt. Aber es gibt in jeder Gesellschaft die Sehnsucht nach Erneuerung, Fortschritt und Verbesserung. In Marokko ist die Hoffnung, modern zu sein, unausgesprochen vorhanden, auch wenn sie nicht vom Großteil der Menschen getragen wird. Die modernen Eliten kämpfen für die Fortschrittlichkeit in Weltsicht, Gesellschaft und Religion. Die traditionellen Eliten sind rückwärtsgewandt. Trotz der Kraft der traditionellen Strömung stelle ich die Entwicklung hin zu einem modernen Bewusstsein fest und glaube, dass dies im Prinzip von den modernen politischen Kräften getragen wird.

Interview: Ulla Lehmann und Nikola Richter

Das Interview erschien in der Zeitschrift für Kulturaustausch 1/05

Mohamed Sabila ist Professor für Philosophie an der Geisteswissenschaftlichen Universität in Rabat und Präsident der marokkanischen Gesellschaft für Philosophie.

Qantara.de

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