Im Würgegriff der Taliban
Herr Rashid, wenn Präsident Hamid Karzai Sie heute bezüglich der gegenwärtigen Lage in Afghanistan um Rat bäte, was würden Sie ihm sagen?
Ahmed Rashid: Die größte Schwäche Karzais und seiner Administration ist sicherlich der eklatante Mangel an Regierungsfähigkeit, der sich etwa im Einfluss der Warlords oder in der Korruption manifestiert. Sein Wunsch, die Verhandlungen mit den Taliban zu beschleunigen und dafür grünes Licht von den Amerikanern zu erhalten, basiert ebenfalls auf brüchigen Grundlagen. Karzai hat noch nicht verinnerlicht, dass man als Afghane solche Verhandlungen mit dem Feind nur führen kann, wenn man sich in einer starken Position befindet. Die derzeitige Schwäche der afghanischen Regierung würde derartige Gespräche von Anfang an belasten und alles zunichtemachen, was bisher in Afghanistan erreicht wurde. Karzai geht davon aus, er könne durch den Dialog mit den Taliban und die Beendigung des Bürgerkrieges sein politisches Überleben sichern. Dieses hängt allerdings nicht von solchen Gesprächen ab, sondern vielmehr von einer Politik, die dem Volk dient, die Infrastruktur aufbaut und die ökonomischen Perspektiven verbessert, um den Taliban dann – aufgrund der eigenen Regierungsfähigkeit – Stärke demonstrieren zu können.
Haben Sie das Präsident Karzai so schon einmal direkt gesagt?
Rashid: Ja, vor zwei Jahren in Kabul.
Sie sprachen gerade vom politischen Überleben Karzais. Fürchten Sie gelegentlich, er könnte ein genauso schreckliches Schicksal erfahren wie Mohammed Najibullah, der kommunistische Präsident Afghanistans, dessen geschundenen Leichnam die Taliban 1996 durch die Straßen schleiften?
Rashid: Ich hoffe nicht. Ich denke, Afghanistan hat solche Phasen schon hinter sich. Es gibt natürlich keine Garantie, dass Karzai überlebt. Im Falle von Verhandlungen, nach dem Abzug der westlichen Truppen, würde Karzai wahrscheinlich als Übergangspräsident angesehen. Möglicherweise käme es dann zu einer Übereinkunft mit den Taliban, dass Mullah Omar nicht mehr nach Afghanistan zurückkehrt, ebenso einige Anführer der Taliban, die für die internationale Gemeinschaft nicht akzeptabel sind und beispielsweise ins Exil nach Saudi-Arabien gehen könnten. Die Loya Jirga könnte dann einen neuen Präsidenten wählen, dessen Überleben nicht von den Amerikanern gewährleistet werden müsste.
Sie haben einmal erwähnt, der größte Fehler der Administration Obama bezüglich Afghanistans sei die Festsetzung eines Zeitplans für den Rückzug der amerikanischen Truppen gewesen. Sind Sie immer noch dieser Überzeugung?
Rashid: Ja, das war einer der größten Fehler überhaupt. Auch wenn dieser Zeitplan immer wieder umgeändert und neu interpretiert wird, gehen jetzt doch alle Afghanen, die Taliban und die benachbarten Staaten davon aus, dass die Amerikaner abziehen. Infolgedessen versuchen all diese Kräfte, ihre eigene Zukunft abzusichern, was die Situation erschwert und die Ausgangslage komplizierter macht.
In den westlichen Medien werden die Taliban häufig als einheitlicher, monolithischer Block porträtiert. Könnten Sie die Unterschiede zwischen den afghanischen und den pakistanischen Taliban skizzieren?
Rashid: Da gibt es große Differenzen. Sicherlich kämpfen die pakistanischen Taliban für die afghanischen Taliban. Die afghanischen Taliban haben sich auch teilweise auf pakistanisches Territorium zurückgezogen, wo sie unter dem Schutz der pakistanischen Taliban stehen, wo es zu einem Austausch kommt, zur gegenseitigen Unterstützung und zur gemeinsamen Planung von Terroranschlägen. Die pakistanischen Taliban haben aber ein ganz anderes soziales Netzwerk und eine andere politische Zielsetzung als ihre Verbündeten in Afghanistan.
Eine politische Zielsetzung, die sich auf die paschtunische Volkszugehörigkeit bezieht?
Rashid: Nein, die pakistanischen Taliban haben das Ziel, ein islamistisches System in Pakistan zu errichten. Sie haben Stützpunkte im Punjab, in Sindh und anderen Regionen Pakistans. Die pakistanischen Taliban setzen sich schon lange nicht mehr nur aus Paschtunen zusammen, sondern haben sich zu einer nationalen Bewegung entwickelt, in der man alle Volksgruppen findet – ganz im Gegensatz zu Afghanistan, wo über 90 Prozent der Taliban der Volksgruppe der Paschtunen angehören.
Die Flutkatastrophe hat kürzlich in Ihrem Heimatland Pakistan immense Schäden angerichtet, viele Menschenleben gefordert und große Teile der Infrastruktur zerstört. Sehen Sie diese Katastrophe auch als Herausforderung für die politische Stabilität Pakistans?
Rashid: Bedauerlicherweise ja, auf zwei verschiedenen Ebenen. Einerseits, weil durch die Überschwemmungen große Teile der Infrastruktur, besonders im Nordwesten, zerstört wurden. Diese Infrastruktur wieder zu errichten, nimmt Jahre in Anspruch. Ein großer Teil der Bevölkerung wurde durch die Flut ruiniert und ihrer Lebensgrundlage beraubt. Betroffen waren ja in erster Linie die ohnehin schon ärmsten Regionen Pakistans entlang des Indus. Diese Millionen von Menschen, hungernd und obdachlos, müssen in den nächsten Monaten und Jahren versorgt werden, aber dafür ist die pakistanische Regierung einfach nicht ausgerüstet. Zweitens haben die Taliban die Katastrophe nicht genutzt, um einen Waffenstillstand anzubieten, sondern im Gegenteil um ihre Positionen auszubauen und ihren Einfluss zu vergrößern. Momentan sind die Taliban dabei, die im vergangenen Jahr erlittenen Terrainverluste wieder gutzumachen. Da viele Brücken in diesen Gebieten zerstört wurden und die Armee entsprechend blockiert ist, hat die Regierung keine Möglichkeit, einzugreifen.
Warum bietet der Westen nicht mehr Hilfe an? Liegt es am negativen Image Pakistans im Westen, als gescheiterter, als gefährlicher Staat?
Rashid: Pakistan hat ein Glaubwürdigkeitsproblem in der internationalen Gemeinschaft.
Wer ist dafür verantwortlich?
Rashid: In erster Linie die pakistanische Regierung. Korruption ist ein weitverbreitetes Phänomen in Pakistan, bis in die höchsten Spitzen des Staates. Ein Großteil der Spenden für das verheerende Erdbeben von 2005 in Kaschmir kam nicht bei den Bedürftigen an, sondern versickerte in dunklen Kanälen. Und nach wie vor gibt es keine transparente Institution, die sich um die Verteilung von Spendengeldern kümmern könnte. Diese Missstände hätten schon längst von der pakistanischen Regierung beseitigt werden müssen, einer Regierung, die ihren eigenen Bürgern keine vernünftige Vision für die Zukunft zu geben weiß. Zudem kam die Katastrophe zu einem Zeitpunkt, da der Westen Pakistans irgendwie überdrüssig geworden ist.
Könnte die eher zurückhaltende Spendenbereitschaft auch auf eine wachsende Islamfeindlichkeit im Westen zurückzuführen sein?
Rashid: Möglicherweise. Allerdings dürften auch die Folgen der Weltwirtschaftskrise ein wesentlicher Faktor sein.
Ihre Heimatstadt Lahore war kürzlich auch Ziel terroristischer Angriffe. Haben Sie das Gefühl, Ihr Lebensstil als Wanderer zwischen den Welten, als Vertreter eines pakistanischen Weltbürgertums, sei dadurch bedroht?
Rashid: In den letzten Jahren hat die "Talibanisierung" der pakistanischen Gesellschaft stark zugenommen. Auch in den großen Städten, auch in meiner Heimatstadt Lahore. Junge Absolventen der Koranschulen bestimmen die Gesetze auf den Straßen, attackieren Vertreter eines anderen Lebensstils und zwingen Frauen dazu, sich zu verschleiern. Natürlich gibt es nach wie vor eine starke urbane Mittelschicht, die aber immer mehr zu leiden hat unter dem Niedergang Pakistans sowie dem Druck der Militanten. Ich bezweifle, dass die Militanten momentan in der Position sind, den urbanen Zentren ihr steinzeitliches Gedankengut aufzuzwingen, besorgniserregend ist aber der Mangel an Widerstand.
Würden Sie der These zustimmen, dass ohne den starken Einfluss Saudi-Arabiens in den vergangenen Jahrzehnten sowohl Afghanistan als auch Pakistan sich nicht in einer derart schwierigen Situation befänden?
Rashid: Ich bin der Ansicht, dass die saudische Außenpolitik in den 1980er und 1990er Jahren einen unglaublich negativen Einfluss auf die Stabilität in der gesamten Region hatte. Der Wohlstand der Saudis, beziehungsweise die Art, wie dieser Wohlstand verwendet wurde, um radikalislamisches Gedankengut zu verbreiten, die wahhabitische Lehre, hat viele der heutigen Konflikte mit verursacht. Eine Chance wurde damals vertan. Wenn die Saudis sie genutzt und ihr Geld ins Bildungswesen der betreffenden Länder gesteckt hätten, dann hätten wir heute eine ganz andere und wesentlich weniger problembeladene islamische Welt.
Allerdings: Das Bildungssystem in Saudi-Arabien ist ja selbst völlig überholt – wie hätten sie dann eine vernünftige Bildungspolitik in ihrem ausländischen Einflussbereich finanzieren wollen? Die Verbreitung des Wahhabismus, der saudischen puritanischen Form des Islams, in der jüngeren Vergangenheit hat die Saat gelegt für die heutigen Probleme. Nicht nur in Afghanistan und nicht nur in Pakistan.
Interview: Ramon Schack
© Qantara.de 2010
Ahmed Rashids Studie "Taliban. Afghanistans Gotteskämpfer und der neue Krieg am Hindukusch" ist kürzlich bei C. H. Beck neu aufgelegt worden. Ebenfalls 2010 erschien sein Buch "Sturz ins Chaos. Afghanistan, Pakistan und die Rückkehr der Taliban" bei der Edition Weltkiosk im C.-W.-Leske-Verlag.
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de
Qantara.de
Interview mit Hikmet Çetin
Der Westen versteht Afghanistan nicht
Worin bestehen die größten Probleme beim Wiederaufbau Afghanistans? Und auf welche Strategien sollte der Westen im Umgang mit der Zentralregierung in Kabul setzen? Darüber hat sich Ayşe Karabat mit dem ehemaligen politischen Vertreter der NATO für Afghanistan, Hikmet Çetin, unterhalten.
Islamismus auf dem Balkan
Radikalismus auf dem Vormarsch
Ein kürzlich im Internet aufgetauchtes Musikvideo, in dem einige makedonische Männer Osama Bin Laden preisen, befeuerte die Befürchtungen, dass im Südosten Europas eine neue Brutstätte des militanten Islamismus entstehen könnte. Von James M. Dorsey
Buchtipp Ahmed Rashid
Abstieg ins extremistische Chaos
In seinem neuen Buch "Descent into Chaos. How the war against Islamic extremism is being lost in Pakistan, Afghanistan and Central Asia" schreibt der pakistanische Journalist und Schriftsteller Ahmed Rashid, wie die Region auch sieben Jahre nach dem Sturz der Taliban von einer Stabilisierung weit entfernt ist. Thomas Bärthlein hat das Buch gelesen.
Afghanistan-Konferenz in Kabul
Glückwunsch, Taliban!
40 Außenminister der Nato-Staaten haben in der afghanischen Hauptstadt faktisch beschlossen, dass ihr Gegner den Krieg gewonnen hat, kritisiert der afghanische Journalist Sayed Yaqub Ibrahimi in seinem Kommentar.