Bruch mit der Sprache der Tabus

Atiq Rahimi hat überraschend den französischen Prix Goncourt erhalten. In seinen dunklen Geschichten spiegelt sich das Drama seines eigenen Lebensweges. Ein Portrait.

By Martin Gerner

Mit seinem geschwungenen Borsalino, dem gepflegten Schal um den Hals und einem akkurat getrimmten Schnäuzer gleich einem modernen Musketier könnte man meinen, Atiq Rahimi sei mit dem französischen Gen eines Genießers aufgewachsen. Tatsächlich verachtet der 46-Jährige die Freuden des Lebens nicht – er ist ein Intellektueller und ein bon vivant zugleich. Rahimi ist sowohl afghanischer wie französischer Staatsbürger: "Wenn ich in Afghanistan bin, werde ich zu einem Franzosen, wenn ich in Frankreich bin, zu einem Afghanen."

Tatsächlich kennt Rahimis Literatur keine nationalen Kategorien. In seinen Romanen geht es um das menschliche Drama zwischen Krieg und Frieden sowie um die Leidensprüfungen, die das Individuum zu erdulden hat. "Syngué Sabour – la pierre de patience", "Der Stein der Geduld", für den er jetzt ausgezeichnet wurde, beschreibt – in eindringlicher Monolog-Form – die Trauer und Ängste einer Frau, die ihren vom Krieg gezeichneten Mann verliert und gleichzeitig in erschütternder Weise ihren Hass gegen ein System der religiösen und politischen Unterdrückung zum Ausdruck bringt.

"Das Buch ist kurz, aber sehr dicht", so der Präsident der Jury zur Begründung. Der Roman beginnt mit der Zeile: "Irgendwo in Afghanistan oder anderswo". Wie schon in "Erde und Asche", der Erzählung, die Rahimi 1996 erfolgreich selbst verfilmt hat, legt der Autor den Fokus auf die globale menschliche Tragödie. "Die afghanischen Frauen stehen sinnbildlich für alle Frauen der Welt, mit ihren Wünschen, Träumen und Hoffnungen. Ich hoffe, dass man mein Buch auch in Afghanistan lesen wird."

Die eingebauten Hemmnisse der Muttersprache

Bisher ist der Roman nur auf Französisch erschienen, die deutsche Ausgabe wird Herbst 2009 bei Ullstein erschienen. Das Besondere an "Syngué Sybour" ist, dass Rahimi erstmals in der Sprache seiner Wahlheimat schreibt – auf Französisch. "Mit der persischen Sprache habe ich die Welt kennengelernt, mit ihr verbinden sich oft Tabus, Grenzen und Verbote", erklärte Rahimi unlängst.

"Es gab also eine Art Selbstzensur in mir, wenn ich auf Persisch geschrieben habe. In der Sprache, die ich mir gewählt und angeeignet habe, finde ich dagegen eine gewisse Freiheit, mich auszudrücken, fern von der Selbstzensur und einer unbewussten Scham, die in uns wohnt von Kindheit an."

Zwei Jahre hat Atiq Rahimi an "Syngué Sabour" gearbeitet, ein "impulsiver Akt", wie er sagt, um "der Wut und einer inneren Verletzung" nachzuspüren.

Die unerlässliche Kraft der Poesie

Atiq Rahimi stammt aus wohlhabendem Elternhaus. Im Kreise der Familie war es keine Seltenheit, aus Klassikern der Weltliteratur zu zitieren. Die Lyrik als Ausdrucksform begleitete ihn schon früh, weshalb er sie zum Instrument umfunktioniert: "Schulen und Krankenhäuser brauchen wir für Geist und Körper. Aber um unsere Seele wiederzufinden, brauchen wir mehr Poesie."

Sein Vater ging in Kabul auf eine deutsche Schule und war Gouverneur des Distrikts Panshir-Tal. Rahimi selbst besuchte das französische Lycée Esteqlal. Als 1973 der afghanische König Mohammed Sahir Shah in Abwesenheit gestürzt wurde und bis im Jahr 2002 unfreiwillig im Italienischen Exil seine Zeit fristete, zerbrach die Familie von Atiq Rahimi. Sein Vater wurde festgenommen und verbrachte drei Jahre in Haft, sein älterer Bruder wandte sich der kommunistischen Ideologie zu und versuchte Atiq auf seine Seite zu ziehen. Vergeblich.

1984 entscheidet sich Rahimi seine Heimat zu verlassen. Über Pakistan kommt er nach Frankreich und erhält dort politisches Asyl. Erst 1990, mit 18 Monaten Verspätung, erfährt er vom Mord an seinem Bruder, der in Afghanistan geblieben war. Da hat er sich bereits in die französische Kultur gestürzt, Alain Resnais' "Hiroshima, mon amour", die Literatur von Marguerie Duras sind zwei von vielen bedeutenden Wegmarken.

Beifreiung vom Machiavellismus der Politk

Atiq Rahimi sieht sich als kulturellen, nicht als politischen Flüchtling. "Ich kann keine politischen Reden halten oder politische Rechtfertigungen vortragen, und zwar deshalb, weil in der Politik alles zu rechtfertigen ist", so der Autor in einem Interview.

Rahimi studiert in Paris an der Sorbonne, wo er später auch promoviert und auch seinen ersten Dokumentarfilm dreht. Mit der Verfilmung von "Erde und Asche" ("Chakestar o chak") gewinnt er 2004 bei den Festspielen in Cannes den Preis in der Kategorie "Un certain regard". Der Film gilt vielen als Beleg, dass sich Rahimi trotz der Jahre im Exil dem Denken und Fühlen seines Heimatlandes nicht entfremdet hat.

Realismus und Aktivismus

Was die Zukunft seines Landes angeht, ist Atiq Rahimi Realist. "Solange es keine globale und klare Strategie der internationalen Kräfte in der Region gibt, wird es schwierig, Frieden nach Afghanistan zu bringen. Man muss das Übel an der Quelle anpacken. Einfach nur mit militärischen Schutzoperationen in Afghanistan zu intervenieren, bringt nicht viel."

An Gespräche mit den Taliban glaubt der Autor nicht, "weil die Taliban die Bedingungen für solche Verhandlungen nicht akzeptieren werden."

Seit 2002 reist er regelmäßig zwischen Frankreich und Afghanistan hin und her. "Ich habe in meiner Heimat Schreibwerkstätten gegründet für 300 Jugendliche. Ich vermittle das Schreiben, aber auch, wie man ein Drehbuch schreibt. Wir haben eine afghanische Soap-Opera für das Fernsehen ins Leben gerufen. Der Kampf wird im Inneren des Landes geführt, zusammen mit den Jugendlichen."

Martin Gerner

© Qantara.de 2008

Martin Gerner ist Journalist, der sich seit Jahren auf das Land Afghanistan spezialisiert hat. Darüber hinaus fördert er auch den Kulturaustausch zwischen Afghanistan und Deutschland, unter anderem als Leiter des Kölner Afghanistan-Filmfestivals. In dieser Funktion hat er im Jahre 2005 Atiq Rahimi als Gast gewinnen können, welcher dort seine Verfilmung von "Erde und Asche" vorstellte.