"Will ya ever go jihad again?"

Das Buch "Poems from Guantanamo" ist ein Phänomen: Von Tausenden Gefangenen-Gedichten haben 22 die US-Zensur passieren dürfen. Auch die Islamisten sind in der Moderne der Lyrik angekommen.

By Stefan Weidner

​​So sehr man sich über die USA aufregen kann: Sie dürften der einzige Staat sein, der seine ärgsten Gegner aus dem Gefangenenlager heraus mit offizieller Genehmigung Gedichte veröffentlichen lässt.

Zugegeben, mit der Genehmigung haben sie sich schwer getan, und sie ist ziemlich restriktiv ausgefallen. Von mehreren tausend Gedichten, die in Guantanamo entstanden sind, haben nur 22 die Sicherheitsbestimmungen, das heißt die Zensur, passieren dürfen. Doch was darin zu lesen steht, ist explosiv genug.

Wut, Sehnsucht nach der Heimat, Verzweiflung, Ermutigung, Trost, Racheschwüre, die Anrufung Gottes, aber auch Realistisches wie die poetische Verarbeitung von Befragungssituationen machen den schmalen Band zu einem gewichtigen Dokument. Dass die Gefangenen überhaupt Gedichte verfasst haben, wundert nicht.

Höllische Ferien

In fast allen ihren Herkunftsländern bestehen noch orale Dichtungstraditionen, etwa in Pakistan und Afghanistan, oder genießt die Lyrik wie unter den Arabern eine Popularität, die in unseren Breiten unbekannt ist: Sie ist Tagebuch oder politisches Manifest, Medium zur Beschimpfung wie zur Lobhudelei, kann Beichtstuhl sein oder Richterstuhl.

​​Aller sonstigen Mitteilungsformen, sogar des Briefeschreibens, beraubt, oft selbst von den Mitgefangenen isoliert, sahen sich viele der Häftlinge zum Ausdruck ihrer Nöte auf die alte orientalische Kulturtechnik der Lyrik zurückgeworfen.

Die ersten Gedichte in Guantanamo kursierten mündlich unter den Gefangenen oder wurden in das Schaumstoffgeschirr geritzt.

Eines dieser Kürzestgedichte, die sogenannten "cup poems", lautet so: "Armreife sind für schöne junge Mädchen und Alte, mutigen jungen Männern ziemen die Handschellen."

Später erhielten die Gefangenen Schreibmaterialien, aber die Texte, die sie verfassten, wurden ihnen in aller Regel abgenommen, kontrolliert, und lagern heute in einem Hochsicherheitstrakt irgendwo in Virginia.

Das Herz der Öffentlichkeit

Es war eine Gruppe amerikanischer Rechtsanwälte des "Center for Constitutional Rights", die im Zuge ihrer Bemühungen um Grundrechte für die Guantanamo-Häftlinge von den Gedichten erfuhren und sich um einen Zugang zu den Texten bemühten. Die Auflagen dabei muten paranoid an, unter anderem mussten die Texte darauf geprüft werden, ob sie versteckte Botschaften und Anweisungen an al-Qaida enthielten.

Aus diesem Grund waren den Rechtsanwälten und Herausgebern die fremdsprachigen Texte nur in der Übersetzung durch regierungsamtliche Dolmetscher zugänglich, die in Virginia und in Guantanamo unter hohem Zeitdruck und ohne ausreichende Wörterbücher die Gedichte ins Englische bringen mussten.

Die Texte haben überraschende Qualitäten, sind zumeist gradlinige, zeitgenössische Poesie. Die Gefühlswelt der Gefangenen nimmt einen großen Platz ein, althergebrachter Topoi der orientalisch-islamischen Dichtkunst bedienen sie sich eher selten.

Sollte es das Ziel von Guantanamo gewesen sein, die Gefangenen zu brechen, scheint dies eklatant gescheitert zu sein. Angesichts der zahlreichen Filme und Bücher über Guantanamo ist dem Pakistani Ustad Badruzzaman Badr wohl oder übel recht zu geben: "We live in the stories now,/we live in the epics/we live in the publics heart."

They talk, they argue, they kill...

Militärisch sinnlos, erweist sich Guantanamo zunehmend als PR-Debakel für die USA. "Peace, they say", schreibt Shaker Abdurraheem Aamer aus Saudi-Arabien, "Peace of mind?/Peace on earth?/Peace of what kind? . . . They talk, they argue, they kill: / They fight for peace." Das hätte selbst Brecht nicht besser und knapper sagen können.

Nach der Lektüre dieses Bandes ist jedenfalls klar, dass auch die Islamisten in der dichterischen Moderne angekommen sind. Das einzige Gedicht, das in der Originalsprache abgedruckt ist, ist ein MTV-tauglicher Rap des in England lebenden Sambiers Martin Mubanga, worin offen die Verhörsituation thematisiert wird:

"Now them ask me, what will ya do if ya leave the prison? / Will ya be able to slip back into d'system? / What ya gonna do with ya new-found fame? / An' will ya ever, ever go jihad again?"

Erfreulich ist, dass die Restriktionen bei der Auswahl dieses Bandes offenbar wirklich nur durch Sicherheitserwägungen bestimmt waren; unter propagandistischen Gesichtspunkten hätte keines dieser Gedichte erscheinen dürfen. Das PR-Desaster Guantanamo wird abgerundet durch die beigegebenen Kurzbiographien der dichtenden Gefangenen.

Zwar sind diese Lebensläufe aus der Sicht der Rechtsanwälte verfasst; doch scheint es unter den hier zu Wort kommenden Häftlingen keinen zu geben, dessen Verbindungen zu al-Qaida schlüssig nachweisbar sind. Und dass die pakistanischen Behörden, wie es in den Lebensläufen öfter heißt, für ein gutes Kopfgeld gerne auch einmal den Falschen ausgeliefert haben, glaubt man leicht.

Die offensichtliche Unrechtspraxis in Guantanamo untergräbt nicht die Moral der Islamisten, sondern die des Westens. Indem aber die amerikanischen Rechtsanwälte um den Herausgeber Marc Falkoff die Gefangenen zu Wort kommen lassen, geht es nicht nur darum, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sondern auch um die Rettung unseres eigenen Seelenheils.

Das vorliegende Buch ist ein Phänomen, nicht weil selbst in Guantanamo Poesie entstanden ist, sondern weil uns kaum etwas anderes möglich bleibt, als uns für diese Gedichte zu interessieren, wenn wir den Zivilisationsbruch, den ein solches Lager darstellt, nicht billigend in Kauf nehmen wollen.

Stefan Weidner

© Qantara.de 2009

Marc Falkoff (Hrsg.): "Poems from Guantánamo. The Detainees speak", University of Iowa Press, Iowa City 2007. 72 Seiten, 11,50 Euro.

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