Ein kollektives Geschichtsbuch für den Libanon
Herr Traboulsi, In Ihrem Buch "A History of Modern Lebanon" führen Sie ungemein viele Fakten, Namen, Daten auf. Welche Zielgruppe hatten Sie im Auge?
Fawwaz Traboulsi: Ich halte Vorlesungen an der American Lebanese University in Beirut zu dem Thema und begann den Inhalt niederzuschreiben. So entstand ein Buch, das in arabischer und englischer Sprache erschien und sich an Libanesen wie Nichtlibanesen richtet.
Glauben Sie, dass die libanesischen Leser eine so detaillierte Geschichtslektion benötigen?
Traboulsi: Es ist schon eine Weile her, dass zu diesem Thema ein Buch erschienen ist … es stammt von dem libanesischen Historiker Kamal Salibi von 1965. Zudem wollte ich die Fülle an Literatur, die es mittlerweile zum 15jährigen Bürgerkrieg 1975-1990 gibt, in einen umfassenden Kontext integrieren.
Aber das waren nicht meine einzigen Beweggründe. Dass der Libanon, wie er seit 1920 existiert, meist nur in Bezug auf das Libanongebirge abgehandelt wird, ist sträflich. All seine anderen Regionen müssen in die Historie reintegriert werden.
Auch darf man das Land nicht nur unter dem Motto des Konfessionalismus beleuchten und die wichtigen sozioökonomischen Faktoren außer Acht lassen, die Jahrhunderte lang zu den Konflikten entscheidend beitrugen – und das tun sie bis heute, wenngleich es kaum Beachtung findet. Das impliziert zugleich, dass der Libanon keineswegs nur die Spiel- bzw. Kampfeswiese externer Mächte ist. Vielmehr muss man auch das einst und aktuell Hausgemachte in die Rechnung einbeziehen.
Insgesamt ist das Buch der Versuch, das ursprüngliche Vorhaben des Abkommens von Taif 1989 zu materialisieren – nämlich ein kollektives und somit vereinigendes Geschichtsbuch für alle Libanesen zu schreiben. Bis heute haben die diversen libanesischen Gruppierungen ihre eigenen Geschichtsinterpretationen in ihren Schulbüchern.
Zum Beispiel?
Traboulsi: Die Maroniten gewichten ihre angebliche Abstammung von den angeblich nicht-arabischen Phöniziern, die Sunniten den arabischen Kontext. Den Christen gilt der sunnitische Emir Bashir Schihab II, der unter den Osmanen das Libanongebirge beherrschte und zum Christentum übertrat, als Begründer ihrer Herrschaft, während er für die Drusen derjenige ist, der die ihre beendet hat. Die Sunniten der Städte sind der osmanischen Ära gewogen, die Christen zeichnen sie als finsteres Zeitalter und so weiter.
Wer sich mit Libanons Geschichte auseinandersetzt, stößt reihenweise auf Verdrängtes, Zensiertes und auf Halbwahrheiten. Vor allem, wenn es um bewaffnete Konflikte geht. Bereits die kolonialistischen französischen Historiker stellten den Bürgerkrieg von 1860 als Massaker an libanesischen Christen dar – was diese später gerne gegen die Muslime verwandten. Dass sie, die angeblich passiven Opfer, de facto noch schwerer bewaffnet waren als ihre damaligen drusischen Gegner wird ignoriert.
Sie betonen, dass der Konfessionalismus nicht das einzige Charakteristikum des Libanon ist oder je war. Dennoch liegt es offensichtlich nahe, seine Geschichte anhand solcher Grenzziehungen zu debattieren.
Traboulsi: Die blockartigen konfessionellen Formationen, mit denen wir heute konfrontiert sind, entstanden erst Mitte des 19. Jahrhunderts. Und dass sich die Konfessionen, wie gegenwärtig der Fall, unter ein, zwei Führern politisch vereinigen, kam erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf. Früher gab es weder diese Homogenität noch hatten die religiösen Führer eine derartige Kontrollmacht. Im Gegenteil, bis ca. 1850 waren sie säkular. Man bedenke, dass christliche, drusische, schiitische und sunnitische Bürger noch 1820 gemeinsam gegen die ungerechte Steuerpolitik Bashirs II revoltiert haben.
Was trug zu der konfessionellen Verhärtung bei, die gegenwärtig ihren Höchststand erreicht zu haben scheint?
Traboulsi: Zunächst der französische Kolonialismus: Die Franzosen legitimierten die Kolonisierung unter dem Vorwand, religiöse Minderheiten – Drusen, Alawiten, Schiiten - zu schützen. Schließlich hat das Abkommen von Taif das Sektierertum institutionalisiert, indem es drei, ihre jeweilige Konfession repräsentierende Präsidenten schuf: einen maronitischen Staatspräsidenten, einen sunnitischen Ministerpräsidenten und einen schiitischen Parlamentspräsidenten. Das konnte recht und schlecht funktionieren, solange es den von Taif berufenen Schiedsrichter in Gestalt des syrischen Staatspräsidenten gab.
Als diese ultimative Zufluchtmöglichkeit in 2005 endete, wurde die Schwäche des Systems offenkundig. Seine ganze Logik basiert auf einer Einstimmigkeitsregel: alle können sich für etwas aussprechen – bzw. jeder kann Veto gegen alles einlegen. Es ist ein völlig schizophrenes System, das notgedrungen in Sackgassen führt.
Ihr Buch endet mit dem Abkommen von Taif. Weshalb haben Sie die Nachkriegsära von Rafik al-Hariri nicht einbezogen?
Traboulsi: Diese Epoche ist zu zeitnah, um sie in ein Geschichtsbuch zu integrieren. Ich werde sie getrennt behandeln und habe auch vor, auf die Greuel des Bürgerkrieges 1975 bis 1998 einzugehen, die nie aufgearbeitet wurden. Wer seine eigene Geschichte nicht kennt, läuft am meisten Gefahr, sie zu wiederholen.
Da haben Sie sich die sensibelsten aller Themen vorgenommen… Herr Traboulsi, viel Erfolg und herzlichen Dank für das Gespräch.
Interview: Mona Sarkis
© Qantara.de 2008
Fawwaz Traboulsi: A History of Modern Lebanon, Pluto Press, London 2007.
Der libanesische Historiker und Politologe Dr. Fawwaz Traboulsi ist Privatdozent an der American University in Beirut und Autor von mehreren Büchern.
Qantara.de
Gilbert Achcar / Michael Warschawski: "Der 33-Tage-Krieg"
Globale Dimension
Am 12. Juli 2006 griffen israelische Streitkräfte den Libanon an. Den folgenden "Julikrieg" oder "33-Tage-Krieg" untersucht das libanesisch-israelische Autorenpaar Gilbert Achcar und Michael Warschawski in seinem Buch "Der 33-Tage-Krieg" und warnt bereits vor einer Fortsetzung. Beate Hinrichs stellt das Buch vor.
Bloggen im Krieg
Wenn nicht nur die Waffen sprechen
Das Internet kennt keine Grenzen, das zeigen die Diskussionen libanesischer und israelischer Blogger über den Krieg im Libanon. Über die Grenzen hinweg entwickelte sich ein noch nie da gewesener Dialog. Von Ingmar Kreisl
Konfliktprävention im Libanon
Frieden lernen
Im von ethnischen und religiösen Konflikten geprägten Zedernstaat sitzen in einem Workshop einer Beiruter NGO erstmals rivalisierende Parteien zusammen, um Formen friedlicher Konfliktlösung zu erlernen. Christina Förch war dabei.