Bosniens vielfältige muslimische Lebenswelten

Die Diskussionen unter den Muslimen Bosniens könnten einen Anstoß für Muslime in einem nicht-muslimischen Staat und für die Integrationspolitik in Deutschland geben, meint die Islamwissenschaftlerin Armina Omerika.

الكاتب، الكاتبة : Claudia Mende

​​Frau Omerika, was ist beispielhaft am bosnischen Islam?

Armina Omerika: Der bosnische Islam wird durch eine einheitliche Institution repräsentiert, die Islamische Gemeinschaft, das ist eine seiner Besonderheiten. Gleichzeitig haben bosnische Muslime eine lange Tradition des Lebens in einem nicht-muslimischen Staat. Deshalb haben sie Fragen, die in Deutschland noch zu klären sind, bereits vor langer Zeit gelöst. Diese Diskussionen in den islamischen Kreisen Bosniens können sicher einen Anstoß für das Leben von Muslimen in einem nicht-muslimischen Staat und für die Integrationspolitik in Deutschland geben.

Wie hat sich der bosnische Islam mit dem nicht-muslimischen Staat arrangiert?

Omerika: Die Frage hat sich zum ersten Mal gestellt, als Bosnien 1878 unter die Verwaltung durch Österreich-Ungarn gestellt wurde. Seitdem standen die bosnischen Muslime sozusagen unter "Fremdherrschaft". Schon damals gab es heftige Debatten, ob Muslime in einem nicht-islamischen Staat leben können. Reformer wie Dzemaludin Causevic, Oberhaupt der bosnischen Muslime von 1914 bis 1930, haben sich für einen modus vivendi eingesetzt. Dieser modus vivendi hat sich im Laufe der Zeit natürlich verändert.

Welche Fragen waren besonders umstritten?

Omerika: Es gab heftige Debatten innerhalb der muslimischen Intelligenz und unter den Gelehrten über die Säkularisierung der Bildung, über den Status von Frauen in der Gesellschaft und über die Reform der Scharia. Seit der Okkupation durch Österreich-Ungarn wurde sie auf Familien- und Erbrecht reduziert.

Besonders umstritten war zum Beispiel, inwieweit Frauen öffentlich tätig werden dürfen. Auch die Frage der islamischen Banken und der Zinsen wurde diskutiert und wie man sich mit nicht-islamischen Verwaltungs- und Herrschaftsstrukturen arrangiert. Viele Lebensbereiche wurden nach und nach säkularisiert. Impulse, die Scharia zu reformieren und die Gesellschaft zu säkularisieren, kamen auch von innen, nicht nur von außen.

Nur mit Druck von außen kann man also nichts erreichen?

Omerika: Ohne eine inner-islamische Debatte kann man nicht viel erreichen. Gerade in Europa sind die islamischen Gemeinden sehr vielfältig, oft untereinander uneins und nur wenig vernetzt. Dieser inner-muslimische Dialog ist für meine Begriffe die erste Voraussetzung, um Probleme der Integration in die westeuropäischen Gesellschaften zu lösen.

Wie war die Situation während der kommunistischen Herrschaft?

Omerika: Während der kommunistischen Herrschaft wurde die Säkularisierung in Bosnien zugespitzt. Die Wurzeln der Säkularisierung reichen zwar in die muslimischen Kreise und in die Debatten Anfang des 20. Jahrhunderts, aber unter den Kommunisten gab es eine Zwangssäkularisierung von oben mit repressiven Maßnahmen gegen die Islamische Gemeinschaft. Die Säkularisierung wurde auf eine Art und Weise durchgeführt, die für den demokratischen Staat heute nicht in Frage kommt.

​​Führte die forcierte Säkularisierung zum religiösen Revival?

Omerika: Ab Mitte der 1960er Jahre gab es eine Phase der Liberalisierung mit Anflügen von Religionsfreiheit und daraufhin ein religiöses Revival. Halblegale Bewegungen und informelle Netzwerke, die im Untergrund weiter existiert haben, konnten jetzt im kommunistischen Staat zu Wort kommen.

Kann der bosnische Islam ein Modell für Europa sein, obwohl er an eine bestimmte historische Konstellation gebunden ist?

Omerika: Die spezifische Situation in Bosnien-Herzegowina hat dazu geführt, dass die Islamische Gemeinschaft sich in Abwesenheit anderer nationaler Institutionen zur zentralen nationalen Instanz für die bosnischen Muslime entwickelt hat. Kroaten und Serben haben neben der katholischen und der serbisch-orthodoxen Kirche noch weitere nationale Institutionen, die ihre Kultur und ethnische Identität fördern.

Die bosnischen Muslime aber nicht, deshalb ist die Islamische Gemeinschaft in diese Rolle geschlüpft. Ihre spezifische Rolle in Bosnien ist nicht nur das Ergebnis historischer Konstellationen auf dem Balkan, die man nicht auf Westeuropa übertragen kann, sondern das Ergebnis einer nationalen Entwicklung. Wir haben es mit einem nationalisierten Islam zu tun, der an eine Ethnie gebunden ist. Dies stellt seine Beispielhaftigkeit für einen europäischen Islam natürlich erheblich in Frage.

Vermischt sich der Islam mit bosnischem Nationalismus?

Omerika: Seit dem Bosnienkrieg vertritt die Islamische Gemeinschaft einen politischen Nationalismus, in dem die ethno-nationale Identität mit der religiösen und politischen Identität gleichgesetzt wird. Dementsprechend gibt es immer wieder Allianzen zwischen der Islamischen Gemeinschaft und den verschiedenen national orientierten bosniakischen Parteien in Bosnien-Herzegowina.

In Westeuropa haben wir es dagegen seit den 1950er Jahren mit zugewanderten islamischen Gemeinschaften zu tun. Seitdem ist eine Vielfalt muslimischen Lebens entstanden, die wir bisher nicht kannten. Diese Vielfalt ist nicht nur ethnischer sondern auch theologischer Natur. Es gibt unter den Muslimen in Westeuropa linguistische, ethnische und doktrinäre Barrieren, die es unmöglich machen, eine solche Institution wie die Islamische Gemeinschaft in Bosnien Eins zu Eins zu übertragen.

Wie steht es mit dem theologischen Modellcharakter?

Omerika: In Bosnien ist der offene muslimische Diskurs genauso alt wie die Islamische Gemeinschaft selbst. Es gibt zwar auch konservative Strömungen, aber sie sind Teil einer Debatte, die bis heute andauert.

Ein Meilenstein für den bosnischen Islam war 1977 die Neugründung der islamisch- theologischen Fakultät in Sarajevo. Islamische Gelehrte wie Enes Karic und Fikret Karcic haben an der einzigen islamischen Fakultät einer staatlichen Hochschule in Europa wegweisende Konzepte entwickelt, wie der Islam in einen säkularen Staat integriert werden kann. Sie sind nur im Westen weniger bekannt als zum Beispiel türkische Theologen. Dabei stehen sich der bosnische und der türkische Islam durchaus nahe, denn beide folgen der hanafitischen Rechtsschule und der maturidischen theologischen Schule. Auch für Türken ist Säkularisierung kein Fremdwort, denn die Türkei ist seit 1923 ein säkularer Staat.

Wie geht die Islamische Gemeinschaft mit den radikal-islamischen salafitischen Strömungen um?

Omerika: In Bosnien ist heute das gesamte islamische Spektrum vertreten. Nicht nur die neo-fundamentalistische Salafiyya sondern auch die Schia, der Sufismus und Gruppierungen, die im Islam als heterodox gelten, wie die Bahai. Während des Bosnienkriegs von 1992-1995 sind bis zu tausend Glaubenskrieger aus der islamischen Welt und mit ihnen missionarisch aktive humanitäre Organisationen nach Bosnien gekommen. Sie haben die salafitischen Strömungen importiert. Das hat zu sehr vielen Konflikten mit der einheimischen Bevölkerung geführt. Viele von den Glaubenskriegern haben das Land jetzt aber wieder verlassen.

Aber es gibt doch noch Salafiten in Bosnien…

Omerika: 2001 mussten sich viele von ihnen auf Druck der USA zurückziehen, ihre Organisationen wurden geschlossen und die saudischen Finanzquellen ausgetrocknet. Die gemäßigten unter ihnen wurden in die Islamische Gemeinschaft integriert. Heute sind Salafiten in Bosnien zum größten Teil einheimische und nicht etwa zugewanderte Muslime.

Es gab keine direkte Konfrontation mit der Islamischen Gemeinschaft, wohl aber eine Resolution ihres Rates (Sabor), dass alle Rituale in den Moscheen nach der hanafitischen Rechtsschule durchzuführen seien. Aber in der Praxis ist das schwer nachprüfbar. Die Integration mancher Salafiten hat der Islamischen Gemeinschaft im bürgerlich-liberalen Lager die Kritik eingehandelt, man gehe zu lasch mit diesen sogenannten Wahabiten um.

Diskutiert Bosnien heute über die Stellung des Islam?

Omerika: Insbesondere die Person des Mufti, Mustafa Ceric, wird in Bosnien sehr kontrovers diskutiert. Viele werfen ihm seine Selbstinszenierung als politischer Akteur und die Überschreitung seiner Kompetenzen als religiöses Oberhaupt vor. Er vermische Islam und Politik und gefährde dadurch den säkularen Charakter des Staates.

Zudem ist die Salafiyya mit ihren missionarischen Bestrebungen ein regelmäßiges Thema in der bosnischen Presse. Wenn aber christliche Fundamentalisten aus den USA unter der muslimischen, katholischen und orthodoxen Jugend missionieren, wird das fast gar nicht thematisiert. Genauso wenig wie die große Nähe der serbisch-orthodoxen Kirche zu den staatlichen Strukturen. Die Debatte um den Islam und seine Stellung in der Öffentlichkeit ist so zu einer Art Ersatzdiskurs für Debatten über Religion im Allgemeinen geworden.

Interview: Claudia Mende

© Qantara.de 2010

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