Engel und Dämon
Wie sieht eine islamische Schule eigentlich aus? Koransuren an den Wänden, Gebetsräume, Geschlechtertrennung im Klassenzimmer? Das "Güventas-Gymnasium" in der zentralanatolischen Industriestadt Konya hat nichts dergleichen. Es ist ein sauberer Neubau mit einem Chemielabor im vierten Stock, einem Rasen mit chinesischem Pavillon davor und einer silbernen Atatürk-Büste am Eingang. Mädchen mit Kopftuch werden vom Pförtner abgewiesen, wie überall in der Türkei. Mit bloßem Auge ist an dieser frisch gestrichenen Provinzschule nichts Frömmelndes zu erkennen. "Der Islam ist bei uns Privatsache", versichert der gutgelaunte Direktor Adil Halid Alici. "Es gibt eine Stunde Religionsunterricht pro Woche, mehr nicht."
Der Lehrplan sei wie vom Staat vorgeschrieben - genauso wie der allmorgendliche Treueschwur auf Republikgründer Atatürk. Und doch: Irgendetwas muss faul sein an der "besten Schule von Konya mit den besten Absolventen", wie der Vater einer künftigen Schülerin schwärmt. Schließlich ist das Güventas-Gymnasium keine ganz normale türkische Schule. Es ist eine private Einrichtung, eine von Hunderten, die zu der weltweit größten islamischen Bildungsbewegung gehören: der "Fethullah-Gülen-Bewegung". Ein Name, bei dessen Nennung im laizistischen Ankara die Alarmglocken schrillen.
Ein Ärgernis für die Staatselite
Das geheimnisvolle Netzwerk ist ein Ärgernis für die Staatselite. Manchen gelten die Anhänger des muslimischen Predigers Gülen, auch "Fethullacis" genannt, als die größte Bedrohung der Türkei seit Bestehen der Republik. Internet-Seiten wie irtica.org ("Rückschritt") oder vatanhainleri.wordpress.com ("Vaterlandsverräter") warnen vor einem Rückfall ins Mittelalter, vor millionenfach verschleierten Frauen und der Einführung von Scharia-Strafgerichten. Kommentatoren wie Yusuf Kanli rätseln, ob die Fethullacis gar das Kalifat wiederbeleben wollen - schleichend, Schritt für Schritt, mit den Mitteln geheimer Indoktrinierung, mit Schulen, Universitäten, Medien. Und auch im Ausland melden sich die Warner zu Wort.
Michael Rubin, ein früherer Pentagon-Mitarbeiter, inzwischen für das neokonservative American Enterprise Institute tätig, vergleicht den im amerikanischen Exil lebenden Gülen mit einem anderen Prediger, dem verstorbenen Iraner Ajatollah Chomeini. "Istanbul im Jahre 2008 könnte wie Teheran im Jahre 1979 aussehen", verkündet Rubin unheilvoll. Vor einer möglichen Rückkehr des Türken in sein Heimatland sei also gewarnt, denn "noch nie stand die säkulare Ordnung der Türkei auf so zittrigen Füßen". Ist Fethullah Gülen, der auf Fotos eher wie ein wehmütiger Großvater wirkt, ein verkappter Fundamentalist? Ist der Mann, der ohne Turban und Rauschebart daherkommt, nur ein Meister der islamischen "Takija", der erlaubten Verstellung? Oder ist er doch eine Stimme der Vernunft, einer der progressivsten Muslime unserer Zeit, wie seine Anhänger sagen? Den Gründer der größten islamischen Bewegung in der Türkei kannten bis vor kurzem nur die Türken - und einige Islamexperten im Ausland. Dann gaben die amerikanische Zeitschrift "Foreign Policy" und die britische Zeitung "Prospect" die Ergebnisse einer Leserumfrage bekannt, in der nach den 100 wichtigsten Intellektuellen der Welt gesucht wurde. Auf Platz eins landete: Fethullah Gülen. Ein muslimischer Gelehrter, ein Orientale, der es vermochte, westliche Geistesgrößen wie Noam Chomsky, Al Gore, Umberto Eco und, weit abgeschlagen, Jürgen Habermas auf die hinteren Ränge zu verbannen?
Eine "Lawine von Wählern"
Der Überraschungserfolg ist schnell erklärt. Die meisten Stimmen, über 500.000, waren bei dem Online-Ranking eingegangen, kurz nachdem die Gülen nahestehende Tageszeitung "Zaman" ihre Leser zur Beteiligung aufgerufen hatte. Mit einer solchen "Lawine von Wählern" habe man zwar nicht gerechnet, schrieb "Foreign Policy", fügte aber hinzu, dass dies doch etwas "Einzigartiges" enthülle über die "Wirkungsmacht der Männer und Frauen, die wir für das Ranking ausgewählt haben". Und "Prospect" lieferte eilig einen Aufklärungsartikel nach ("Ein moderner Osmane"). Darin heißt es: "Der Gewinner unserer Umfrage ist das moderne Gesicht der osmanischen Sufi-Tradition."
Das Phänomen Gülen beginnt in Korucuk, einem abgeschiedenen Nest in Ostanatolien. Kaum 600 Seelen zählt das Dorf, die Häuser sind aus Lehm und Stroh gemacht. Das Leben ist einfach, die Perspektiven trübe. 1941 (nach anderen Angaben 1938) wird hier Fethullah, der Sohn des Dorf-Imams Ramiz Gülen, geboren. Der Kleine ist wissbegierig, der Legende nach beginnt er mit fünf Jahren den Koran auswendig zu lernen. Mit zehn Jahren hat er sein Werk vollendet, spricht fließend Arabisch und hat sich mit den wichtigsten muslimischen Gelehrten vertraut gemacht. Knapp vier Jahre später hält er seine erste Predigt. Er nimmt Unterricht bei hohen Geistlichen im "richtigen Lesen des Koran" und beginnt, sich mit der Schriftensammlung "Rislae-i Nur" des muslimischen Mystikers Said Nursi auseinanderzusetzen.
Angeregt durch die Schriften Nursis - welche das logische und wissenschaftlich fundierte Konzept liefern sollen, um den Herausforderungen der Moderne zu begegnen -, beschäftigt sich Gülen auch kritisch mit dem orthodoxen Gesetzesislam. Bald entwickelt er seine eigene Position. Zwar hält er die islamischen Prinzipien, wie sie im Koran offenbart wurden, für unveränderlich; er ist aber überzeugt, dass diese grundsätzlich ihrer jeweiligen Zeit angepasst und neu interpretiert werden müssen. Die staatliche Ordnung solle dabei als Rahmen für das eigene Handeln akzeptiert werden; die moderne Wissenschaft stelle die Mittel bereit, Gott über das Studium seiner Schöpfung auch rational zu begreifen.
Wanderprediger auf dem Weg zur Spiritualität
Schon bald reist Gülen als Wanderprediger durchs Land. In den von politischen Unruhen und Militärputschen erschütterten Zeiten ruft er zu Dialog und Frieden auf, verurteilt Gewalt und Terrorismus und zitiert dabei die großen Meister der islamischen Mystik, Muhyiddin-i Ibn Arabi und Mevlana Celaleddin Rumi, die den "Weg der wahren Erkenntnis durch Spiritualität und Liebe" aufgezeigt hätten. Oftmals bricht Fethullah Gülen dabei minutenlang in Tränen aus - ein künftiges Markenzeichen des "Hocaefendi" ("ehrwürdiger Lehrer"), wie ihn seine Anhänger jetzt nennen. Der Charismatiker, der ein immer größeres Publikum anzieht, fordert Anteilnahme statt Rückzug. Eine Gesellschaft, sagt er, könne nur durch seine Individuen verändert werden. Der Schlüssel dazu heiße Bildung. Gülens Devise: Baut neue Schulen statt neue Moscheen!
Auch Arbeit ist ein Schlüsselwert für den Prediger, dessen Ratschläge mitunter protestantische Züge tragen. "Für Ausdauer und Geduld werden wir mit Erfolg belohnt; die Strafe für Trägheit ist Mittellosigkeit", so Gülen in einem seiner Bücher über die "Grundlagen des islamischen Glaubens". Massenhaft Anhänger wird er in den Folgejahren unter der aufstrebenden Mittelschicht Anatoliens finden: Diesen "islamischen Calvinisten", wie sie das europäische Forschungsinstitut ESI nennt, gefällt die Verbindung von Gottesdienst und Geldverdienen. Aber der Mann aus Korucuk predigt auch über die Verwerflichkeit des Atheismus und der Evolutionslehre von Darwin, die er vehement ablehnt. Seine Texte klammern die Existenz von Engeln und Dämonen nicht aus.
Als der vom Westen herbeigesehnte "muslimische Reformer" könne er schon deswegen nicht durchgehen, findet der Islamwissenschaftler Bekim Agai. Auch vertrete Gülen gar keine eigene oder gar revolutionäre neue Theologie. Sein Islamverständnis orientiere sich eher am konservativen Mainstream. Nein, ein Reformer im theologischen Sinne sei Gülen sicher nicht, sagt einer seiner engeren Berater, der Vizepräsident der Istanbuler "Stiftung der Journalisten und Schriftsteller", Cemal Usak. "Aber ein Demokrat und ein großer Humanist, und darauf kommt es doch an."
Gülens Bildungsmission
Unzählige private, aber staatlich anerkannte Bildungseinrichtungen, Schulen, Universitäten, Wohnheime und Nachhilfeeinrichtungen schießen in den achtziger und neunziger Jahren aus dem Boden, nachdem sich Gülen aus seiner Predigertätigkeit im Staatsdienst verabschiedet hat. Er widmet sich ganz seiner Bewegung und gewinnt an Ansehen im Volk. Denn die sozialen Aktivitäten seiner Sponsoren stoßen in eine Lücke, die der türkische Staat nie schließen konnte - oder wollte: Der Bildungsstand in der Provinz und in den Randzonen der großen Städte ist miserabel.
Dass die Bewegung nebenbei allerdings auch politische und wirtschaftliche Interessenverbände gründet, sorgt für Misstrauen. Dazu kommt ein Presseimperium mit Verlagen, Zeitschriften, einem Fernsehsender und der zweitgrößten Tageszeitung der Türkei - "Zaman" ("Zeit"). Spätestens in den Achtzigern ist Gülen endgültig eine Person des öffentlichen Lebens. Wenn er, wie er selbst sagte, "auf Wunsch der Bevölkerung" in der berühmten Istanbuler Sultanahmet-Moschee predigt, befinden sich unter seinen Zuhörern auch der ehemalige Ministerpräsident Süleyman Demirel und dessen Außenminister Ihsan Sabri Çaglayangil. Sogar zu Turgut Özal, dem späteren Premierminister und Staatspräsidenten, hält der Prediger Kontakt. Dass die guten Beziehungen in die Politik ihn nicht immer schützen, muss Gülen erfahren, als er häufiger mit dem Gesetz in Konflikt kommt. In der Regel geht es um "antisäkulare Aktivitäten", meist wird er schnell wieder auf freien Fuß gesetzt. 1994 gründet er die "Stiftung der Journalisten und Schriftsteller", deren Ehrenvorsitzender er wird. Er gibt nun regelmäßig Interviews in allen wichtigen Zeitungen und trifft sich mit der politischen Elite - unter anderem mit der Politikerin Tansu Çiller, mit der er 1996 die spätere Bank Asya eröffnet. Auf Auslandsreisen sucht er das Gespräch mit Papst Johannes Paul II. und John O'Connor, dem Erzbischof von New York. Sein Netzwerk wächst weiter: Schulen und Hochschulen werden in der ehemaligen Sowjetunion, den Turkstaaten Zentralasiens, aber auch in Europa und den USA gegründet. Wie viele es genau sind, vermag keiner zu sagen - auch die Fethullacis nicht.
Eine geheime Agenda?
"Wie denn auch?", erregt sich der prominente "Zaman"-Journalist Selçuk Gütasli, der die ganze Aufregung um seine Bewegung nicht verstehen kann. "Wir sind keine Organisation, bei der man Mitglied werden kann. Wir sind eine Gemeinschaft von Menschen, die alle ungefähr das gleiche Ziel verfolgen!" Darum liege auch die deutsche Gülen-Kritikerin Necla Kelek so daneben, wenn sie die Bewegung als "undurchsichtige islamistische Sekte mit Konzernstruktur" bezeichne. "Jeder, der uns eine geheime Agenda vorwirft, kann gern kommen und nachfragen. Wir haben nichts zu verbergen", so Gütasli. Auf einer Website der Hilfsorganisation "Kimse Yok Mu" ("Ist niemand da?") lassen sich die Hauptsponsoren der karitativen Projekte, inklusive Gülen selbst, nachverfolgen. Und auch die Tatsache, dass die Mehrheit der 16 Teilhaber an der Bank Asya, welche den wichtigsten Geschäftsleuten des Landes islamkonforme zinsfreie Kredite ermöglicht, eng mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung steht, lässt sich auf Gülens eigener Website nachlesen.
Tatsächlich berufen sich die Schüler des "Hocaefendi" auf eine Organisationsform, die weit bis ins osmanische Mittelalter zurückreicht: die der religiösen Sufi-Bruderschaften. Ohne jemals Rechtsstatus als juristische Person zu erlangen, lebten die Orden auch unter dem Kemalismus weiter. Fethullah Gülen trat dem Orden des Mystikers Said Nursi bei, den "Nurcu". Und eben dieser Orden distanziert sich frühzeitig vom radikalen Islam. Den Sturz des ehemaligen Premierministers und Fundamentalisten Necmettin Erbakan 1997 begrüßt Gülen. Seine Empfehlung: Nicht gen Iran oder Saudi-Arabien sollten die Türken schauen, sondern nach Europa. Im März 1999 reist der Prediger überraschend in die USA. Kurz darauf strahlt ein türkischer Fernsehkanal eine offensichtlich heimlich gefilmte Rede aus. In dem Mitschnitt fordert Gülen seine Anhänger auf, "geduldig zu arbeiten und sich in die Institutionen einzuschleichen, um die Macht im Staat zu übernehmen". Prompt fordert die Staatsanwaltschaft in Istanbul zehn Jahre Haft für Gülen mit der Begründung, dieser habe "eine Organisation gegründet, die den laizistischen Staatsapparat zu zerstören und einen theokratischen Staat zu gründen beabsichtige". Gülen bezeichnet die Aufzeichnungen als "manipuliert", seine Anhänger sprechen von einer Diffamierungskampagne. Neun Jahre später, im Juni 2008, wird er von allen Vorwürfen freigesprochen.
Doch vorerst bleibt er in seinem Exil im US-Bundesstaat Pennsylvania - "aus gesundheitlichen Gründen", wie er sagt. Seine Freunde beteuern, sie wüssten nicht, wann der Hodscha zurückkommt. Doch sie hoffen, dass es bald sein wird. "Wenn ich ihn nicht sehen kann, dann heule ich wie ein Schlosshund; das ist so, als könnte ich meine Liebe nicht treffen", so Ihsan Kalkavan von der Bank Asya. Ein bekannter Medienunternehmer hingegen hofft, dass Gülen noch lange fortbleibt. "Er wird nicht zurückkommen wie Chomeini, aber er wird die Türkei weiter islamisieren", sagte er, der dafür streiten will, dass seine Tochter und deren Freund "auch in Zukunft auf der Straße Händchen halten können". Überzogene Ängste oder sicherer Instinkt? Das Misstrauen seiner Gegner zu überwinden dürfte, für den Rest seines Lebens Gülens wichtigste Aufgabe sein.
Daniel Steinvorth
© New York Times Syndicate
Daniel Steinvorth, geboren 1974, ist Türkei-Korrespondent für den Spiegel in Istanbul.