Rückkehr in ein libanesisches Geisterdorf
Die deutsch-libanesische Koproduktion "The One Man Village" erzählt die Geschichte von Semaan - einem Mann, der als einziger ehemaliger Bewohner in sein vom Bürgerkrieg zerstörtes christliches Dorf zurückgekehrt ist. Mit dem Regisseur Simon el Habre und der Produzentin Irit Neidhardt sprach Nicola Abbas.
Am Anfang des Films scheint das Leben der Rückkehrers Semaan mit seinen Kühen und Tieren allein auf dem Dorf geradezu paradiesisch - wie eine Rückkehr zu den Wurzeln. Im Laufe des Films brechen aber viele Erinnerungen und Wunden auf. Wie würden Sie selbst den Film zusammenfassen?
Simon El Habre: Durch Semaans Geschichte entdecken wir die Geschichte des Dorfes und seiner früheren Bewohner. Viele hängen noch an ihrem Land, bebauen und pflegen es, leben aber nicht mehr dort, weil sie woanders ein anderes Leben aufgebaut haben, aber auch einfach Angst haben, es könnte wieder zu einem Krieg kommen.
Ich habe trotzdem den Eindruck, dass Semaan dort glücklich ist. Schließlich hat er sich selbst dazu entschieden, die Stadt zu verlassen und ins Dorf zurückzukehren. Er wurde nicht dazu gezwungen. Nach acht Jahren scheint er mir vor allem sich selbst näher zu sein. Diese Lebensweise liegt ihm einfach. Gut möglich, dass auch die Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach seinen verstorbenen Eltern, anfangs eine Rolle spielte. Ich glaube aber nicht, dass jemand es acht, neun Jahre aushält, nur weil er an der Vergangenheit hängt.
Durch den Film versuchte ich auch zu herauszufinden, ob dieses Dorf wohl einmal wieder so werden könnte wie es früher war - was ich mir wirklich nostalgisch vorgestellt hatte. Ich bin zu dem Schluss gekommen: Es wird nie wieder so werden wie früher, das ist unmöglich.
Und wie steht es mit der Aussöhnung unter den Libanesen, um die es in dem Film ja auch geht? Ist die also auch unmöglich?
El Habre: Ganz so pessimistisch bin ich nicht. Aber wenn es im Libanon gesellschaftlich und politisch so weitergeht wie bisher, wird es sicher nie zu einer Aussöhnung kommen. Es muss sich etwas Grundlegendes ändern, damit in ein paar Generationen eine Aussöhnung erreicht werden kann. Ich persönlich glaube allerdings nicht, dass das Kino hierzu unmittelbar einen entscheidenden Beitrag leisten kann. Vielleicht kann es aber manche Zuschauer dazu bringen, ernsthaft darüber nachzudenken, wie sie eigentlich leben, wie sie die anderen sehen, jenseits aller Klischees.
Wie waren denn die Reaktionen, im Libanon und anderswo? Auch die der Protagonisten?
El Habre: Semaan ist gerne Schauspieler. Er war auch sehr begeistert, dass sein Leben - so wie es ist - gefilmt werden sollte. Viele aus der Familie schauen ihn etwas schief an, weil er immer noch unverheiratet allein auf dem Dorf lebt. Durch den Film hat sich dies gewandelt, auch weil ich ihn so positiv darstelle. Ansonsten hat niemand prinzipiell abgelehnt, mitzumachen, aber im Film merkt man an den Antworten, dass die Befragten zum Teil ausweichen. Sie wollen die Vergangenheit vergessen, die sie aber auf Schritt und Tritt begleitet.
Bisher war der Film nur auf Festivals im Libanon, in Dubai und hier in Berlin zu sehen. Die Reaktionen des Publikums, auch der ca. 1.500 Zuschauer bei der Berlinale, waren durchweg positiv. Im Libanon kam das Publikum aus allen Bevölkerungsgruppen. Eine Drusin aus dem Nachbardorf schlug mir anschließend sogar ein neues Filmprojekt vor. Ich beziehe bewusst nicht einseitig Stellung und wollte das Thema Umgang mit Erinnerung möglichst sensibel behandeln - ohne Hass, ohne Anklage.
Wie entstand die Idee zu diesem Film?
El Habre: Ich wollte schon immer einen Film über Erinnerung in der libanesischen Gesellschaft machen, über unsere Beziehung zur Vergangenheit und auch über unser Dorf. Schon zu Studienzeiten habe ich mich damit in kleineren Projekten beschäftigt. Aber erst als mir nach ein paar Jahren klar wurde, dass Semaans Leben im Dorf nicht nur eine vorübergehende Episode bleiben würde, begann ich, die Idee dramaturgisch auszuarbeiten. Glücklicherweise traf ich genau zu der Zeit auch Irit Neidhardt hier auf der Berlinale. Sie war sofort begeistert. Wir haben dann drei Jahre lang sehr intensiv zusammengearbeitet und vor allem darauf geachtet, den Film so interessant zu gestalten, dass er nicht nur vom Libanon erzählt, sondern universal verstanden wird.
Warum wurde ausgerechnet dieses Projekt zu Ihrer ersten gemeinsamen Produktion?
Neidhardt: Mir hat Simons Herangehensweise gefallen. Es ging ihm - genau wie mir - um das Thema, nicht um Geld oder Berühmtheit. Als ich zum ersten Mal im Dorf war, stimmten für mich auch die Bilder. Die Frage beim Dreh war immer: Was bedeutet das, was steht dahinter? Wir haben visuell ganz bewusst beschlossen, mit der Kamera nur im Dorf zu bleiben. Ein sehr eindrucksvoller Blick war der: Ruinen, kein Laut, nur Schnecken im Gras – und dann biegt man um eine Kurve und da hängt frisch gewaschene Wäsche! Das versinnbildlicht klar: Niemand lebt hier – und doch ist jemand da!
El Habre: Ich wusste schon vorher, dass der Produzent, egal welcher Nationalität er sein würde, meine Ideen und Vorstellungen mittragen müsste. Ich wollte endlich etwas Eigenes machen, nachdem ich lange von kleinen Auftragsarbeiten gelebt habe. Irit hat mich von Anfang an voll unterstützt. Sie war nie zu Kompromissen bereit, nur um den Vorstellungen des Publikums in Europa gerecht zu werden. Sie hat mich überhaupt erst ermutigt, einen so langen Film zu drehen. Auch ihr Blick von außen hat mir geholfen. Ich wollte, dass man den Film auch ohne Expertenwissen über den Libanon verstehen würde.
Sie waren der einzige arabische Regisseur auf der Berliner Berlinale. Andere Filmemacher arabischer Abstammung leben oder drehen im Ausland. Empfinden Sie eine besondere Verantwortung als Vertreter des arabischen Kinos?
El Habre: Derartige Kategorisierungen interessieren mich nicht. Ich habe versucht, einen Film zu machen, keinen speziell "arabischen" Film. Aber natürlich ärgert es mich als Araber, dass auf der Berlinale sonst keine arabischen Filme gelaufen sind. Ich bin nicht stolz darauf, der einzige arabische Regisseur zu sein – im Gegenteil, ich würde mich sehr freuen, wenn mehr Filme die arabische Welt vertreten würden.
Neidhardt: Ich glaube, dass unser Film hier gar nicht gezeigt worden wäre, wenn ich nicht selbst in Berlin säße. Es ist ein großes Problem, dass man über die Region oft Filme von außen macht, über etwas Exotisches. Die Menschen im "Westen" glauben, Filme zu sehen, die sie über eine fremde, faszinierende Welt informieren, doch in Wirklichkeit wird oft nur die Sicht westlicher Filmemacher reflektiert. Das ist in der gegenwärtigen weltpolitischen Lage fatal. Wir geben oft vor, dass ein Kulturaustausch stattfindet, aber in Wirklichkeit reden nur wir unter uns über die anderen.
Unser Film läuft da gegen den Trend, man muss sich auf ihn einlassen. Wir gehen in dieses Dorf im Libanon und auf einmal sind die Menschen nicht mehr fremd und exotisch. Man erlebt es von innen heraus, anders als wir es von Geschichten aus dem Nahen Osten sonst gewöhnt sind. Das braucht Zeit, um es zu verarbeiten, aber man kann gleichzeitig auch mehr mitfühlen.
Interview: Nicola Abbas
© Qantara.de 2009
Previews:
28.05.2009 Filmmuseum Potsdam (in Anwesenheit von Irit Neidhardt)
22.05.2009 freiburger film forum
21.05.2009 Arsenal Berlin
6.+10.5.09 Dok.Fest München - Eröffnungsfilm
Kinostart: 10.09.2009
Simon El Habre wurde im Libanon geboren. Seit 2001 unterrichtet er an der Libanesischen Akademie der Schönen Künste (ALBA) in Beirut. Simon El Habre ist Mitglied der Filmkooperative Beirut DC.
Irit Neidhardt ist in Deutschland und Israel aufgewachsen. 1995 war sie Mitbegründerin und bis 1999 Programmleiterin der "Israelischen und Palästinensischen Filmtage Münster". 2002 gründete sie "mec film" (middle eastern cinemas), eine Verleih-, Vertriebs- und Beratungsfirma für Filme aus dem Nahen Osten.
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