Eine halbe Heimat

Bei den Massakern in Armenien um 1915 trieb die osmanische Armee hunderttausende Armenier in die syrische Wüste. Heute leben rund 80.000 Nachkommen der Überlebenden in Syrien.

By Charlotte Wiedemann

​​Eine wuchtige Sandstein-Fassade im Zentrum der Stadt Deir az-Zour: Die "Heilige Kirche der armenischen Märtyrer" ist eine Gedenkstätte für die Massaker an den Armeniern, privat gestiftet, doch unter Schutz des syrischen Staats. Unter Glas sind Knochen und Schädeln der Opfer aufbewahrt; in beschrifteten Karaffen ist türkische Erde, die armenische Heimat war.

Deir az-Zour am Euphrat war 1915 Endpunkt der Vertreibungs- und Todesmärsche. Ungezählte kamen in der syrischen Wüstensteppe um, doch retteten Beduinen auch viele Frauen und Kinder.

Aleppo, bei den Nachfahren der Opfer: Die Türen der Klassenzimmer stehen offen, auf dem Flur überlagern sich helle Kinderstimmen, aus der einen Richtung ein armenischer Chor, aus der anderen ein arabischer. Die Grund- und Oberschule im wohlhabenden Viertel Azizaya ist eine von 16 armenischen Schulen in Aleppo.

1400 Schüler und Schülerinnen – in der Pause reden sie Armenisch, wie zu Hause, der Unterricht ist hingegen, dem staatlichen Curriculum folgend, in den meisten Fächern auf Arabisch. Armenisch wird also nur zusätzlich gelehrt, dennoch bevorzugen armenische Eltern für ihre Kinder eine armenische Schule.

Aleppo: Armenisches Zentrum in Syrien

Aleppo ist die Hauptstadt der syrischen Armenier, 40 000 leben hier, 80 000 sind es im ganzen Land. Im syrischen Mosaik der Religionen und Ethnien eine kleine Gruppe, doch herausgehoben durch die Geschichte. Dieses Schicksal eint die Gemeinde nach Außen, im Inneren setzt sich das Mosaik-Prinzip fort, religiös wie politisch. Von den 16 Schulen in Aleppo sind sieben armenisch-orthodox, vier armenisch-protestantisch, drei armenisch-katholisch, zwei würden indirekt von Parteien unterhalten, sagen Insider; bei den Orthodoxen habe die nationalistische Tashnak-Partei viel Einfluss.

Nach syrischen Kriterien sind die Armenier bestens integriert; wer unter Integration allerdings Assimilation versteht, fände bei den Armeniern eine perfekte Parallelgesellschaft.

Die 26jährige Kunstlehrerin Maggie Zobian verkörpert viel von dieser Widersprüchlichkeit. Die gut aussehende, selbstbewusste Frau spricht fünf Sprachen, darunter auch das Türkisch ihrer Urgroßmutter. Zugleich ist ihr Arabisch so färbungsfrei, dass sie als Hobby-Schauspielerin in arabischen Fernseh-Serien auftritt. Maggi Zobian stellt sich mit ähnlichen Worten vor wie andere junge Armenier: Wir sind die vierte, die fünfte Generation "danach".

Sie ist stolz, dass die Armenier ein berühmter Teil der syrischen Gesellschaft seien und fasst ihren Patriotismus in den Satz: "Wir verteidigen Syrien, als ob wir Syrer wären – zum Beispiel, wenn im Ausland jemand behauptet, hier sei es nicht sicher."

Kein Zweifel, sie wird nur einen Armenier heiraten. "Ich kann mir nichts anderes vorstellen. Meine Kinder sollen Armenier sein." Wenn sie Armenier aus Frankreich trifft, sind das für sie Franzosen. "Die haben ihr Armenisch-Sein verloren, weil sie es nicht als lebendige Kultur praktizieren."

Dass die syrische Regierung aus diplomatischer Rücksicht auf die Türkei den Begriff Genozid meidet, empört die Lehrerin nicht. "Uns reicht es, was die Regierung tut. Wir können auf der Straße Armenisch reden."

Die wichtige Bedeutung der Heimat

Ein paar Häuser weiter der Club der armenischen Jugendvereinigung. Gegenüber ein eleganter Friseursalon in armenischem Besitz, ringsum Ärzteschilder mit armenischen Namen. Dennoch verwendet die Sekretärin des Jugendclubs nebenbei das Wort Diaspora.

Im Leadership-Workshop für armenische Pfadfinder sitzen an diesem Abend anderthalb Dutzend junge Leute, modisch gekleidet und frisiert. Auf die Frage, was eine speziell armenische Führertugend sei, antwortet ein Teilnehmer: "Wir müssen den Kindern beibringen, ihre Heimatstädte nicht zu vergessen. Das ist wichtig, denn wir sind von der Heimat so weit entfernt."

Solchen Parolen kann Haroutune Selimian nichts abgewinnen. Der Präsident der armenischen Protestanten, ein Mann mittleren Alters, hat sie noch von seinen Eltern und Großeltern im Ohr: Wir gehen zurück in die historische Heimat – nie "Türkei" sagen! "Diese Diaspora-Psychologie hat uns marginalisiert. Geistig gesehen haben wir dadurch zwei Generationen verloren."

Die Verlockung des Auslands

Der Protestant, vom Typus her mehr Manager als Kirchenmann, leitet den Aufsichtsrat des "Aleppo College", eine Mädchenschule in armenischem Besitz. Allerdings sind hier heute mehrheitlich Musliminnen eingeschrieben; deren Eltern bevorzugen das College, weil es nicht wie die anderen Privatschulen koedukativ ist, hier also nicht Mädchen und Jungen in denselben Klassen sitzen.

Auf der Schulbank Armenisch zu lernen, ist Nicht-Armeniern indes per Gesetz verboten – um christliche Missionierung zu verhindern. Außerhalb der Schule steht es jedem Muslim frei, privat Armenisch-Unterricht zu nehmen.

"Das ist das einzigartige Modell Syriens", sagt Selimian, "es erhält den Frieden zwischen den Religionen." Ihn bekümmert nur, wie viele talentierte junge Armenier zum Studium nach Europa oder nach Beirut gehen. "Ich will sie in Syrien halten. Darum will ich eine armenische Universität gründen, hier in Aleppo." Bisher ist das nur ein Traum. Und eine neue Variante von armenischer Integration.

Charlotte Wiedemann

© Qantara.de 2007

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