Hysterie statt Sachlichkeit
Thilo Sarrazin, ehemaliger Finanzsenator von Berlin und bis vor kurzem Vorstandmitglied der Deutschen Bundesbank, hat einen Bestseller geschrieben. "Deutschland schafft sich ab", heißt sein Buch. Für die von ihm vorhergesagte schlechte Zukunft des Landes macht er vor allem den Islam und die unkontrollierte Einwanderung von Muslimen verantwortlich.
Die meisten Muslime hätten andere Werte als die Deutschen, schreibt er. Sie schätzten Gott höher als Rechtsstaat und Demokratie. Das sei der Grund, warum Deutschland, wenn es keine aktive Einwanderungs- und Integrationsdebatte betreibe, sich langfristig selbst abschaffe.
Deutschland als Einwanderungsland
Diese Thesen finden viel Zustimmung. Doch zugleich erntet Sarrazin auch Widerspruch. So weist der an der Universität Osnabrück lehrende Soziologe Michael Bommes darauf hin, dass die Debatten, die derzeit zum Thema Islam geführt würden, vor allem erkennen ließen: Die meisten Menschen hätten eines noch nicht verstanden, dass Deutschland längst zum Einwanderungsland mit einer entsprechend komplizierten Vielfalt von Werten und Vorstellungen geworden sei.
"Durch globalisierte Migrationsbewegungen sind in Europa Weltreligionen wie der Islam angekommen", so Bommers. Darauf müssten sich die Muslime einstellen, ebenso aber auch die Bürger der europäischen Staaten. Man müsse das Verhältnis zwischen Politik, Recht und Religion neu bestimmen. Immer schon habe man für diese drei Elemente Kompromissformeln finden müssen. Durch den Islam werde dies jetzt zusätzlich nötig.
Angst vor Kopftüchern und Moscheen
Viele deutsche Bürger sind aber auch deshalb beunruhigt, weil sie ihre Lebensweise durch die Präsenz des Islams in Frage gestellt sehen. Besonders das Kopftuch und Schleier islamischer Frauen irritieren sie. Sie fragen sich, ob diese Frauen unterdrückt werden. Diese Sorgen drücken sich auch in den Ergebnissen einer Studie aus, die die Friedrich-Ebert-Stiftung gerade veröffentlicht hat. Oliver Decker, der die Studie leitete, spricht von einer "sehr deutlichen Zunahme von bisher 34 Prozent auf über die Hälfte der Bevölkerung, die islamfeindlichen Aussagen zustimmt". Auch den Bau neuer Moscheen sähen viele Deutsche mit Skepsis.
Woher resultieren die schlechten Werte für den Islam? Der Islamwissenschaftler Navid Kermani vermutet, die Deutschen sähen ihre Identität durch den Islam bedroht. Identität, erklärt er, werde gebildet, indem man sich von anderen Gruppen abgrenze. Jede gesellschaftliche Gruppe definiere sich dadurch, dass sie sich von anderen Gruppen unterscheide. Darum biete es sich an, auf Distanz zum Islam zu gehen. Denn mit seinen für westliche Bürger ungewohnten Symbolen wirke er ganz besonders fremd. Der Vorgang der Abgrenzung selbst sei ganz natürlich. Problematisch werde es aber, wenn der Andere zum Feind erklärt werde.
Eine teils oberflächliche Diskussion
So verstanden, ist die Diskussion um den Islam nicht verwerflich. In ihr spiegelt sich vor allem das Ringen um ein neues deutsches Selbstverständnis und die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist. Allerdings werden die Debatten nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie oft zu oberflächlich geführt. Die meisten Menschen unterschieden zu wenig zwischen den einzelnen Strömungen des Islams. Ebenso nähmen sie auch die Unterschiede zwischen gemäßigten und radikalen Muslimen nicht hinreichend wahr.
"Ich glaube, dass die meisten Europäer ein eher schematisches Bild vom Islam entwickeln", meint Leggewie. Es sei erstaunlich, dass die Europäer, die doch so weit gereist seien und die Welt so gut kennen würde, die in allen anderen Fragen so sorgfältig und sachorientiert urteilten, im Hinblick auf den Islam so oberflächlich und vorschnell urteilten.
Ganz aus der Luft gegriffen ist die Debatte um den Islam allerdings nicht. Sie gründet auch auf der Tatsache, dass auch im Nahen Osten selbst die Religion wieder neue Kraft gewonnen hat. Das nehme man eben auch in Deutschland wahr, erläutert Navid Kermani. Das Problem sei, dass auch in der muslimischen Welt viele Probleme durch eine religiöse Brille betrachtet würden. Viele Jahre habe die Religion dort in politischen Fragen keine Rolle gespielt. Das habe sich nun geändert. Das bemerke man auch in Deutschland, wo man nun auch eine zunehmende Vermengung von Religion und Politik befürchte.
Islam als Definitionshilfe für Europa
Vor allem aber ist der Streit um den Islam auch ein innerdeutscher. In ihm geht es um die Frage, wie offen Deutschland und die Deutschen sein wollen. Seit dem Ende der Nazidiktatur leiden die Deutschen an ihrer Geschichte, haben ein schwieriges Verhältnis zu ihrer nationalen Identität. Wer sich zum Islam äußert, erläutert Claus Leggewie, äußert sich indirekt immer auch über eine ganz andere Frage, nämlich die, wie international Deutschland sein soll.
"Es gibt auf der einen Seite islamophobe und auf der anderen Seite islamophile Tendenzen", so Leggewie. "Und wie wir wissen, sind die in der Geschichte sehr häufig durchaus miteinander verwandt, obwohl sie nach außen spinnefeind wirken. Das bedeutet ganz offenbar, dass der Islam weiterhin zur Konstruktion des Eigenen in Europa, also zur kollektiven Identität der Europäer einen wesentlichen Beitrag leistet."
Kersten Knipp
© Qantara.de 2010
Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de
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