Die Freude, andere Menschen verachten zu dürfen
Die Thesen, die Thilo Sarrazin in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" und in einer Fülle von Interviews seit vergangener Woche ausbreitet, sind derart haarsträubend dämlich, dass sich eine sachliche Auseinandersetzung schier verbietet.
Man könnte sich also ironisch auf die Feststellung zurückziehen, dass Sarrazin, sollte Dummheit tatsächlich vererbbar sein, wenigstens kein Vorwurf zu machen ist.
Will man aber substanziell etwas zu seinen bizarren Einlassungen sagen, steht man sehr schnell vor der Frage: Verleiht man den Thesen nicht den Anschein der Diskussionswürdigkeit, wenn man versucht, sie zu referieren, zu diskutieren, wenn man auf ihre Unplausibilität hinweist?
Hinzu kommt: Der Autor trägt seine Punkte ja nicht einfach lakonisch vor, nein, er reitet auf ihnen herum, wiederholt sie und insistiert auf ihnen, je abstruser sie sind.
Kein Interview, in dem er nicht gefühlte hundert Mal auf den von ihm behaupteten Sachverhalt zurückkommt, dass Intelligenz in den Genen liege und Dummheit vererbbar sei und dass eine Gesellschaft ein Problem habe, wenn die Dummen eine überdurchschnittliche Fertilitätsrate haben: "Wenn die im Durchschnitt weniger Intelligenten eine höhere Fertilität haben, sinkt die Durchschnittsintelligenz der Population".
Sammelsurium obskurer Behauptungen
All dies wird vermanscht mit Populareugenik und krausestem Simpel-Darwinismus. Und, ja, man kann das nicht anders nennen: Da kommt auch die offenkundige Dummheit des Autors ins Spiel, der anderen die Intelligenz abspricht, aber offenbar keine Spur sozialer Intelligenz besitzt, weil er gerade auf seinen obskursten Behauptungen am meisten herumreitet, nämlich, dass eine kleine Zahl an Unintelligenten, die sich wie Karnickel vermehren, den Gen-Pool der Gesellschaft ruinieren.
Und über solchen Unsinn wollen wir wirklich diskutieren?
Also, machen wir's kurz: Herr Sarrazin behauptet also, die Zuwanderung von Muslimen macht Deutschland dümmer. Erstens, weil die Muslime genetisch eher zu den 'Dummies' gehören. Und zweitens aus kulturellen Gründen, weil gute Schulleistungen etwa bei Türken und Arabern nicht sonderlich prestigeträchtig seien ("ein kulturelles Problem").
Drittens kommt noch hinzu, dass es auch innerhalb ethnisch-kultureller Communities eine Korrelation, einen "positiven statistischen Zusammenhang zwischen Intelligenz, sozioökonomischen Hintergrund und Bildungsgrad gibt".
Soll heißen: Nicht nur sind die Deutschen klüger als die zugewanderten Muslime, auch unter den Deutschen ist es so, dass die Gebildeten und Wohlhabenden – kurzum: die Oberschicht – genetisch klüger ist, als die Unterschicht. Früher aber haben die Dummen weniger Kinder bekommen als die Klugen, weshalb sich der Genpool optimierte. Jetzt ist es andersrum: Ergo, wir vertrotteln, gewissermaßen.
Kruder Sozial-Darwinismus
Herr Sarrazin führt also nicht nur einen neuen rassistischen Diskurs in die Zuwanderungsdebatte ein, sondern auch in die Bildungsdebatte. Wenn viele Muslime am Rande dieser Gesellschaft bleiben und den Aufstieg nicht schaffen – selber schuld, die sind einfach zu dumm dafür.
Wenn die neuen Unterschichten unten bleiben und sich der niedrige Status der Eltern auf die Kinder vererbt, diese also als geborene Verlierer ins Leben gehen, dann ist das kein sozial- und bildungspolitischer Skandal, sondern logische Folge des Umstandes, dass sich die Dummen herausnehmen, ihre bescheidene Intelligenz zu vererben.
Daraus folgt dann natürlich, Herr Sarrazin muss das gar nicht extra dazusagen, dass alle Versuche, durch Bildungsreformen und pädagogische Anstrengungen, die Chancen dieser Chancenlosen zu erhöhen, von vornherein aussichtslos sind.
Kurzum: Die Unten sind zu recht unten. Und schlimmer: Sie machen uns Gebildeten, Verfeinerten, Klugen auch noch das Leben schwer.
Klassisch sozialdemokratische Ideale?
Wäre Sudel-Thilo Mitglied der NPD, kein Mensch würde seinen Thesen Aufmerksamkeit schenken, allerhöchstens würde man die ironische Frage stellen, wie er denn die intelligenzgenetische Ausstattung der Sauf-Skinheads beurteilt, die seinen Postulaten zujubeln.
Herr Sarrazin ist aber Mitglied der SPD und will das bleiben, und zwar ausdrücklich auch deshalb, weil seine Position, wie er sagt, klassisch "sozialdemokratisch" sei. Da stellt sich natürlich die Frage, wie er auf diese groteske Idee kommen kann. Wollen wir hier ausnahmsweise eine einfühlende, hermeneutische Lektüre versuchen. Was könnte in Herrn Sarrazins Kopf vorgehen, dass er auf diesen Gedanken kommt?
Eine klassisch sozialdemokratische Position lautet "Wissen ist Macht". Deshalb wollte die traditionelle Sozialdemokratie die Menschen bilden. Diese Idee der Ermächtigung durch Bildung verbreitete sich und führte dazu, dass Bildung auch in unterprivilegierten Milieus während einer bestimmten Epoche hochgehalten wurde – sagen wir: in der Zeitspanne von 1900 bis 1980.
Die Eltern sagten ihren Nachkommen: Lern was, Kind, damit etwas wird aus Dir. Über Bildung, so lautete das Versprechen, könne man den gesellschaftlichen Aufstieg schaffen. Und tatsächlich hielt dieses Versprechen einige Jahrzehnte lang.
Heute hält es immer weniger und gerade in Zuwanderermilieus ist das Versprechen heute sehr schal. Kinder, die in die neue migrierte Unterschicht hineingeboren werden, wachsen mit einem anderen Bewusstsein auf, nämlich: Auch, wenn sie sich anstrengen, nützt das ohnehin nichts. Sie haben nur eine minimale Chance. Übrigens gilt das für Kinder aus der autochtonen Unterschicht ganz ähnlich.
Sarrazin scheint also der Ansicht zu sein, dass die Unterschicht heute verkommen ist, weil sie an das klassische sozialdemokratische Versprechen – "Aufstieg durch Bildung" – nicht mehr glaubt. Er hält es deshalb für eine "sozialdemokratische Position", diese Unterschichten dafür zu beschimpfen, dass sie nicht mehr daran glauben. Nun, das ist jedenfalls eine sehr originelle Interpretation der "sozialdemokratischen Idee".
Zonen radikaler Exklusion
Eines ist sicher wahr: Es ist ein gesellschaftliches Problem, dass dieser "sozialdemokratische Faden" gerissen ist, dass es heute Zonen radikaler Exklusion gibt, in denen das Versprechen von Aufstieg durch Bildung nicht mehr zieht und es stimmt gewiss auch, dass es hier einen fatalen Kreislauf von Exklusion und Selbst-Exklusion gibt.
Aber es sind eben primär die politischen Eliten, die nicht in der Lage waren, die integrierende Idee zu erneuern. Es ist jedenfalls keine kluge Strategie, die Opfer dieser Prozesse zu beschimpfen.
Herrn Sarrazins Thesen sind verwirrt, hochnäsig, verletzend, gespickt mit verächtlichen Formulierungen und Ausdruck bizarrer Respektlosigkeit der Eliten gegenüber den "Losern". Der Mann ist auf eine Weise eingebildet, die eigentlich schallendes Gelächter provozieren müsste.
Alleine der Vorwurf an die Unterprivilegierten, sie würden faul von Staatsknete leben und überhaupt keinen Antrieb haben, sich im Wirbelwind des freien Wirtschaftslebens zu behaupten, ist zum Schreien komisch aus dem Mund eines Mannes, der sein gesamtes Leben lang in der staatlichen und staatsnahen Wirtschaft verbrachte und seine gesamte berufliche Karriere – von Ministerium bis Bahn bis Finanzsenatorenamt bis zur Bundesbank – dem Segeln auf einem Parteiticket verdankt.
Skandalöse Rezeption
Skandalös sind insofern nicht so sehr seine Thesen. Viel skandalöser ist die Aufnahme, die sie erfahren. Wieso eigentlich muss so ein Machwerk, statt ignoriert zu werden, über den "Spiegel" verbreitet, in Talk-Shows popularisiert werden, wieso erfährt ein derart krauser Kopf die Ehre, auf zwei "Zeit"-Seiten interviewt zu werden?
Natürlich, weil die Blattmacher wissen, dass es einen gesellschaftlichen Echo-Raum für die kalte Menschenfeindlichkeit gibt, die Sarrazin zum Ausdruck bringt. Weil es Milieus gibt, in denen dieser Rassismus längst schon blüht. Weil die Wortführer dieser Milieus, die sich immerzu überall äußern, der schrägen Auffassung anhängen, sie würden von der "politischen Korrektness" verfolgt und die sich deshalb mit dem Attribut schmücken, sie würden "unterdrückte" Meinungen äußern, dass es Mut bräuchte, "Klartext" zu reden, und sie diesen Mut aufbrächten.
Tolle Hechte, die sich "kein Blatt vor den Mund nehmen". Als würde es in unserer Gesellschaft irgendeine Dummheit geben, die ungedruckt bliebe oder nicht via Trash-Shows ins letzte Wohnzimmer gesendet würde.
Nein, man muss nicht mutig sein, um andere Menschen zu beschimpfen. Mit der ostentativen Freude daran, andere Menschen verachten zu können, kommt man heute auf Bestsellerlisten. Dummheit ist, wenn schon nicht erblich, dann in jedem Fall einträglich.
Robert Misik
© Qantara.de 2010
Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de
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