Mythos Orient
Den Kümmel und die Aubergine, die Aprikose und den Alkohol, die Nelke, den Flieder und den Kaffee, ja selbst die urdeutsche "Zwetschge" verbindet miteinander, dass nicht nur ihr Name dem Arabischen oder Persischen entlehnt ist, sondern dass der Okzident ohne Kulturkontakte zum Orient wohl niemals von den Dingen, die sie bezeichnen, Kenntnis gewonnen hätte.
Was aber hat man davon, die Herkunft der Begriffe zu kennen? Ist das nur eine Spielerei von Hobby-Ethymologen? Der Berliner Arabist Andreas Pflitsch ist anderer Meinung. Der momentane "west-östliche Wahnsinn", so der Autor, münde in eine neue Grabenpolitik und fixiere starre Identitäten und Feindbilder; Konflikte seien damit vorprogrammiert.
"Zusammenprall der Unkulturen"
Wenn Teile der amerikanischen Administration dem Westen die "Schurkenstaaten" Irak, Iran, Libyen und Syrien gegenüberstellten, werde ein "Zusammenprall der Unkulturen aus dem Geist fundamentalistischer Beschränktheit" heraufbeschworen.
Um ein Gegengewicht gegen die neue, durch die Medien noch verstärkte Frontenbildung zu schaffen, tue eine Rückbesinnung auf die Fähigkeit der westlichen wie der östlichen Kultur Not, Offenheit gegenüber anderen Kulturen zu beweisen, fremde Begriffe, Gegenstände und Vorstellungen zu assimilieren und in die "eigene Entwicklung" zu integrieren.
So ist Pflitschs Analyse des "Mythos Orient" der Versuch, Identitätsmodelle, die den Orient zum radikal Anderen stilisieren, zu dekonstruieren. Stattdessen will der Autor auf kulturelle Überlagerungen, Wechselwirkungen und Synthesen aufmerksam machen und dadurch zeigen, dass das Eigene stets Teil am Anderen hatte.
Phantasiegebilde Orient
Dazu werden die einschneidenden – traumatisierenden wie faszinierenden – Stationen der Kulturbegegnung von Ost und West abgeschritten und die vielschichtigen Facetten des Orients als einerseits rein diskursivem, andererseits geografisch und historisch realem, wenngleich imaginär überfrachtetem Topos in ihrer historischen Entwicklung analysiert.
Dabei wird deutlich, dass die heutigen Argumentationsmuster, die den Orient als Ort des Despotismus und der Barbarei brandmarken, aus einem reichen Fundus literarischer Überlieferung schöpfen können. Denn stets waren es, so Pflitsch, vor allem Künstler und Intellektuelle, die weniger aus eigener Anschauung denn im Rückgriff auf ihre Phantasie ein Bild des Orients erschufen, das bis heute fortwirkt: Sex and crime, Luxus und Despotie, bedrohlicher Schauder und sinnliche Verführung. Das ist der Stoff, aus dem der literarisierte Orient bis in die Gegenwart immer wieder neu zurechtgeschneidert wird.
Und wer zu einer wirklichen Reise aufbrach, hatte schon immer die schriftlich niedergelegten Vorurteile im Reisegepäck, so dass die Berichte sich gegenseitig inspirieren konnten.
Schließlich waren Fakten und Fiktion unauflöslich ineinander verwoben – da spielte es dann gar keine so große Rolle mehr, ob die Orient-Erfahrung sich im 12. oder 21. Jahrhundert zutrug.
Die Aufklärung und der Versuch, das Fremde nicht nur zu bestaunen, sondern es zu verstehen, brachte eine Reihe von Werken hervor, die, von Montesquieu über Voltaire bis hin zu Lessing, der europäischen Gesellschaft einen zivilisationskritischen Spiegel vorhielten. Gleichzeitig wurde der Orient nach Bekanntwerden der Märchen aus Tausendundeiner Nacht erneut zu einer exotischen, phantastischen Welt stilisiert.
Zwischen Imagination und Rückständigkeit
In der Kolonialzeit, zeigt Pflitsch, wurde der "Rahmen des Weltbildes" geschaffen, das "bis heute fortwirkt". Wieder zeichnet es sich durch eine starke Ambivalenz aus. Der Orient wurde einerseits zu einem imaginären Ort, an dem für den zivilisationsmüden Westeuropäer all das möglich war, was es in Europa nicht mehr gab. Gleichzeitig wurde das Bild des "rückständigen", dem Fortschritt auf ewig hinterherhinkenden Orients geschaffen.
Der inoffizielle Propagandist kolonialistischer Weltordnung war Karl May (1842-1912), der das Orient-Bild von Generationen geprägt hat, obwohl er selbst die Region erst in fortgeschrittenem Alter einmal bereist hat. Seine Orientalen, allesamt "dunkle Gestalten" von "kriegerischem Wesen", seine "trägen Türken" und die "raubsüchtigen Kurden" erweisen sich, so der Verfasser, als treffliche Verkörperungen des "selbstgerechten Eurozentrismus dieser Zeit".
Elvis Presley im Harem
Pflitsch zeigt, dass die gleiche Ambivalenz aus Bedrohung und Verführung auch noch das Orientbild der jüngsten Vergangenheit prägt. Da gibt es einerseits den luxuriösen, sinnlichen und üppigen Orient, der in der Regenbogenpresse in der Person von Kaiserin Soraya und in Hollywood in Gestalt von Filmen wie "Harem Scarum" (1965) weiterlebt – ein Film, in dem Elvis Presley als Araber verkleidet singend in einen Harem eindringt. Und dann gibt es da noch die Demonstrationen gegen den Besuch des Schah von Persien im Jahre 1967, die mit der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg endeten.
Von Ölscheichs und Fundamentalisten
Andere Daten und Ereignisse, die sich tief ins westliche kulturelle Gedächtnis eingegraben haben, sind die RAF-Terroristen, die in Lagern im Jemen, im Libanon und in Jordanien ausgebildet werden, der Ölscheich, der als "weitere Figur das Panoptikum europäischer Orient-Vorstellungen" betritt, die islamische Revolution von 1979 oder die "Fatwa" Khomeinis gegen Salman Rushdie 1989.
Heute geht das Schreckgespenst des Fundamentalismus um, und die Terroranschläge des 11. September haben dafür gesorgt, dass Fanatiker das Gesamtbild zu prägen scheinen und eine "neue Zweiteilung der Welt, die die alte zu ersetzen scheint", proklamiert wird.
West-östliche 1001 Nächte
Wie ein anderes Orient-Bild gestaltet sein könnte, das den Blick nicht auf Konfrontation, sondern auf Momente der Begegnung richtet, führt Pflitsch in den weiteren Kapiteln aus.
Da erweist sich das Orientalische dann plötzlich nicht mehr als nur orientalisch und das Westliche nicht mehr als nur westlich, sondern beides hat Teil am jeweils Anderen. Das führt Pflitsch eindrucksvoll am Beispiel der Märchen aus Tausendundeiner Nacht vor. Dieses vermeintlich orientalischste aller Werke des Orients erweist sich bei näherer Betrachtung als west-östliches Gemeinschaftsprodukt: Das Werk wurde zu einem "integralen Teil der europäischen Literatur"– nicht nur wegen der Wirkung, die es ausübte, sondern bereits in der Phase seiner Entstehung als Textausgabe, da jeder Übersetzer den Text "in seinem Sinne" las und übersetzte.
Aufräumen mit Vorurteilen
Pflitsch räumt auch noch mit weiteren Vorurteilen auf. Während immer noch der "Afghane" und der "Kiff" eindeutig dem Orient zugeordnet werden (der, im Gegensatz zum "aufgeklärten" Abendland, für Spiritualität, Mystik und Rausch zuständig ist), ist weniger bekannt, dass Europa bei der Implantierung eines Drogenmarktes in Asien kräftig mitgemischt hat: Als China den Opiumhandel verbot, nahm England dies zum Anlass, den Markt des Landes durch den "Opium-Krieg" (1839-42) gewaltsam zu öffnen.
Was die "Spiritualität" des Orients angeht, so relativiert ein Überblick über die islamische Wissenschaftsgeschichte als Geschichte der Rationalität – namentlich die Lehren des Averroës sind hier angeführt – die einseitige Ausrichtung.
Durch dieses Buch erfährt man nicht nur einiges über die Wahrnehmungsmechanismen der eigenen Kultur und den imaginären "Orient im Kopf", sondern auch über im Westen bislang ignorierte oder missverstandene Traditionen und Ideen der arabisch-islamischen Welt.
Mirjam Schneider
© Zeitschrift für KulturAustausch 1/04
Mythos Orient, Eine Entdeckungsreise. Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2003, 189 Seiten