Die Pieta des Elften Septembers

Über tausend Bilder zum Thema "Begegnungen mit dem Nahen Osten" wurden beim "International Photography Gathering" in Aleppo gezeigt. Gabriela M. Keller hat sich dort umgesehen und dabei auch erfahren, warum der Kurator das Missfallen des Regimes erregt.

Über tausend Bilder zum Thema "Begegnungen mit dem Nahen Osten" wurden beim "International Photography Gathering" in Aleppo gezeigt. Gabriela M. Keller hat sich angesehen, wie die internationalen Künstler sich dem Orient genähert haben – und warum der Kurator das Missfallen des Regimes erregt.

Junges Mädchen bei Schönheitswettbewerb - Foto von Vance Jacobs
Junges Mädchen bei Schönheitswettbewerb - Foto von Vance Jacobs

​​Gelassen sieht sie aus, beinahe andächtig. Die junge Frau im grauen Sari steht mitten im Bahnhof von Mumbai. Die Normalität, die zerbrechlichste aller Selbstverständlichkeiten, tobt um sie herum. Passanten hetzen vorbei, so hastig, dass ihre Umrisse zu Schlieren verwischen. Fast herausfordernd ist ihre stille Pose, fast provokativ die Ernsthaftigkeit ihres Blickes.

Drei Jahre ist es her, dass die Bomben an jenem Bahnhof den Alltag zerfetzten. Im März 2003 starben elf Menschen bei einem Anschlag auf einen Vorortzug in Mumbai.

2005 ist der Fotograf Johannes Hepp dort gewesen, um der Veränderung nachzuspüren, die die Anschläge dem Ort zugefügt hat. Nun wurden seine Bilder beim neunten "International Photography Gathering" in Aleppo gezeigt. Issa Touma, Kurator und Galerist der "Le Pont Gallery", hat die Werke von 70 Künstlern aus 27 Ländern in Syriens zweitgrößte Stadt geholt.

Für die Serie "The Days After" macht Hepp Bilder von Tatorten des Terrors. Dabei stellt sein listiges Spiel mit der dokumentarischen Technik Objektivität als schiere Illusion bloß:

Bahnhof von Mumbai (Bombay); Foto: Johannes Hepp
Panoramabild des Bahnhofs von Mumbai mit einer Frau im Sari - Foto von Johannes Hepp

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Die Ansicht jenes Fernverkehrstempels aus Stahl und Beton erstreckt sich in die extreme Breite. Und da sind sie wieder, die tiefen Augen, das ernste Gesicht. Dem Betrachter begegnet die junge Frau im selben Foto ein zweites Mal.

"Die Bilder sind Montagen", erklärt der Münchner; die Realität der Abbildung bekommt auf den zweiten Blick Brüche. "Ich will zum Nachdenken über den Missbrauch des Bildes als Beweismittel anregen", sagt er.

Schikane durch die Regierung

Issa Touma, der Kurator, hatte geplant, die über tausend Bilder im alten Aleppiner Elektrizitätswerk zu zeigen. Doch dann verweigerte die Provinzregierung von Aleppo überraschend die Genehmigung – Touma stand ohne Raum da.

"Die Regierung will, dass sich Kultur nur in den europäischen Zentren, Goethe-Institut oder Institut Français, abspielt", meint er. "Denn so können sie alles kontrollieren." Er schweigt kurz und fügt dann hinzu: "Für unabhängige Personen soll es kein Leben geben."

Issa Touma; Foto: Gabriele Keller
"Ich arbeite nicht mit ihnen zusammen, und das wissen sie", sagt Issa Touma

​​Touma arbeitet seit zehn Jahren auf internationaler Ebene, ist mit Künstlern in aller Welt vernetzt. Mehrfach hat die Regierung ihm signalisiert, dass er damit die Grenzen des Zulässigen überschreitet. Einmal wurde seine Galerie monatelang geschlossen.

"Ich arbeite nicht mit ihnen zusammen, und das wissen sie", sagt er und zuckt müde die Schultern. Doch entmutigen ließ er sich nicht. Stattdessen hängt er die Fotos nun in Wechselschichten in seiner kleinen Galerie auf.

Pose der Pieta

Das Thema "Begegnung mit dem Nahen Osten" ist eher Lesehilfe für die Betrachter statt Arbeitsvorgabe für die Fotografen.

Einige Künstler, etwa Rini Hurkmans, arbeiten auf derart abstraktem Niveau, dass die Dimension des Nahen Ostens erst in den Hirnwindungen des Betrachters Form annimmt: In ihren Selbstporträts nimmt die Holländerin auf die weltweiten Konflikte Bezug.

Stets sitzt sie auf einer Empore und hält einen menschenförmigen Gegenstand in den Armen. Es ist die Pose der Pieta, erklärt sie, die Mutter Maria, die ihren toten Sohn hält: "Dieses Symbol ist weit mehr als nur katholisch, Variationen sind auf der ganzen Welt zu sehen, denn überall verlieren Mütter Söhne."

Einmal sitzt sie in Manhattan und hält eine unschuldig weiße Puppe. Die stille Trauer, der sinnlose Verlust und ein New York, das trotzdem seinem Alltag nachgeht: 9/11 ist nicht direkt zitiert, die Assoziationen liegen dennoch über diesem Bild.

Keine 1001-Nacht-Sentimentalität

Nur in beschaulicher 1001-Nacht-Sentimentalität ergeht sich keiner der Künstler, auch nicht auf den Bildern, die im Orient entstanden sind. Der Syrer Pedros Temizian etwa zeigt eine düstere Großstadtwelt, ein Syrien der nackten Nutzbauten und des urbanen Verfalls, voll fleckiger Betongebirge, in denen wohl Menschen wohnen. Sicher ist man sich da nicht mehr.

So ermöglicht die Ausstellung eine Begegnung im besten Sinne, bei der beide Seiten zwar eigenständig bleiben, aber im Vergleich eine neue Sicht eröffnen – und zwar auf das Andere ebenso wie auf das Eigene.

Auf einem Bild des Amerikaners Vance Jacobs posiert ein bizarr aufgerüschtes kleines Mädchen mit totgeschminktem Gesicht für eine Kinder-Misswahl, auf den Fotos der Libanesin Rania Matar legt sich ein wenig älteres Kind in der Pose hingebungsvoller Sorgfalt den Hidschab um den Kopf.

Welche Kultur ihren Mädchen die Eingewöhnung in die Gesellschaft leichter macht, muss der Betrachter entscheiden. Die Sicherheit gängiger Klischees jedenfalls beginnt zu wanken.

Rund 40 Fotografen sind zur Eröffnung gekommen. Am zweiten Abend empfing der syrische Großmufti Ahmed Hassoun die Gruppe.

"Sie bringen Nachrichten von Ort zu Ort, manchmal sind es Nachrichten von Schönheit und Glück, manchmal von Trauer und Unterdrückung", sagte Hassoun, sprach danach von Toleranz und davon, dass Christentum, Judentum und Islam gleichwertige Wege zu Gott sind.

Die Gäste zeigten sich tief beeindruckt von der weltoffenen Tradition des Islam im "Schurkenstaat" Syrien.

Gabriele Keller

© Qantara.de 2006

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