"Die Afghanen brauchen einen spürbaren Wandel"

Die neue Botschafterin Afghanistans in Deutschland, Maliha Zulfacar, berichtet im Gespräch mit Martin Gerner über die Bemühungen für den Wiederaufbau Afghanistans und den anhaltenden militärischen Konflikt im Süden des Landes.

Maliha Zulfacar, Afghanistans neue Botschafterin in Deutschland; Foto: Calpoly.edu
Maliha Zulfacar: "Die deutsch-afghanischen Beziehungen bieten ein ungeheures Potenzial in politischer, ökonomischer und kultureller Hinsicht"

​​Frau Botschafterin, vor Ihrer Laufbahn als Diplomatin waren Sie Filmproduzentin und Universitätsprofessorin. Das klingt nach einer ziemlich großen Umstellung. Wie schwer fiel Ihnen die Anpassung an die neue Aufgabe?

Maliha Zulfacar: Das war in der Tat eine große Umstellung. Ich fühlte mich eigentlich immer als Lehrerin und Wissenschaftlerin. Der diplomatische Dienst ist ein vollkommen neues Kapitel in meinem Leben, und ich muss erst noch lernen, damit richtig umzugehen.

Andererseits ist eine solche Aufgabe nichts Neues für mich: Ich bin ja auch nicht auf eine Schule gegangen, um Filmemacherin zu werden. Es passierte, als ich 2000 in Afghanistan war, zusammen mit einer Gruppe französischer Feministinnen. Für zwei Wochen waren wir Gäste des inzwischen verstorbenen Ahmad Schah Massoud. Während dieses Aufenthalts besuchte ich Dörfer in der Umgebung und unterhielt mich mit den Menschen dort. Es war eine großartige Erfahrung für mich, nach 22 Jahren wieder in Afghanistan zu sein.

Als ich in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, brauchte ich knapp drei Semester, um meinen ersten Film fertig zu stellen. Zu jener Zeit interessierte sich praktisch niemand für Afghanistan. Der Schnitt des Films war kurz vor dem 11. September 2001 fertig und wurde von verschiedenen Zuschauergruppen sehr positiv aufgenommen.

Ihr neuer Film "Kabul Transit" wurde beim renommierten Filmfestival von Amsterdam vorgeführt. Inwiefern zeigt der Film ein anderes Bild von Afghanistan als wir es gewohnt sind?

Zulfacar: Eine der schönsten Dinge an dem Film ist, dass wir kein fertiges Konzept besaßen, als wir mit dem Dreh in Kabul begannen. Wir hatten kein bestimmtes Thema, keine Mission, keinen Titel. Es ging um den Alltag in Kabul, um all die Veränderungen, die seit 2001 stattgefunden haben. Wir erzählen von den Perspektiven verschiedener Menschengruppen.

So geht es zum Beispiel um eine Gruppe junger Frauen, die an der Universität von Kabul studieren. Diese Frauen berichten von ihrem Alltag und davon, was sie von den neu eingeführten "Gender"-Projekten halten. Wir sehen einen Polizeibeamten, der berichtet, wie ernsthaft er gegen den Drogenhandel kämpft und unter welchen Druck er dadurch von allen Seiten gerät, und wie er deshalb bedroht wird. Der Film behandelt also verschiedene Aspekte des Lebens in Kabul.

Sie sind eine der wenigen weiblichen Botschafterinnen Afghanistans. Welche Akzente wollen Sie als Frau in dieser Position setzen?

Zulfacar: Ich halte mich nicht für besser oder schlechter, nur weil ich eine Frau bin, die diesen Posten bekleidet. Ich denke, es geht einfach um die Fähigkeit, das zu tun, was ein Botschafter tun muss – ganz unabhängig vom Geschlecht. Ich bin erst die zweite weibliche Botschafterin meines Landes; die erste ist in Bulgarien. Ich bin mir der Verantwortung und der Herausforderung bewusst, die mein Posten mit sich bringt; schließlich leben etwa 100.000 afghanische Flüchtlinge in Deutschland. Deutschland hat von allen europäischen Ländern die meisten Menschen aus meinem Land aufgenommen.

Der zweite wichtige Aspekt meiner Arbeit ist natürlich, dass Deutschland eines der Länder ist, das sich am meisten für den Wiederaufbau Afghanistans engagiert, weshalb es mich sehr glücklich macht, hier arbeiten zu dürfen. Die deutsch-afghanischen Beziehungen bieten ein ungeheures Potenzial in politischer, ökonomischer und kultureller Hinsicht – für das Ausschöpfen dieser Potenziale werde ich mich mit ganzer Kraft einsetzen.

Von Seiten der afghanischen Regierung wurde wiederholt ein größerer Einfluss bei der Verteilung der Hilfsmittel eingefordert. Die Europäische Union und die USA haben jüngst weitere finanzielle Zusagen gemacht. Wurden die afghanischen Forderungen dabei berücksichtigt?

Zulfacar: Das war in der Tat ein ernstes Anliegen. Viele Afghanen hören von den enormen Summen, die für den Wiederaufbau des Landes bereitgestellt werden; wenn sich aber in ihrem eigenen Alltag zu wenig verbessert, fragen sie sich natürlich: Was geschieht nur mit all dem Geld? Eines der Dinge, die meine Regierung der internationalen Gemeinschaft gern deutlich vermitteln würde, ist, dass fünf Prozent der finanziellen Hilfe der Regierung zugute kommt, 20 Prozent werden in Gemeinschaftsprojekte der Regierung mit internationalen Organisationen investiert. Die afghanische Regierung würde gern direkter an der Verteilung der uns zur Verfügung gestellten Gelder und Ressourcen beteiligt sein.

Das bedeutet, dass Sie noch auf spürbarere Ergebnisse warten?

Zulfacar: Ich glaube, dass diese Haltung von Menschen im ganzen Land geteilt wird. Sicher gibt es bereits deutliche Veränderungen – und dennoch sind darunter einige, die den Alltag der durchschnittlichen Afghanen nicht erreichen. So gibt es, wenn Sie durch Kabul fahren, einige sehr große neue Gebäude. Gleichzeitig fehlt es aber in weiten Teilen noch immer an einer ausreichenden Energieversorgung. Nur sechs Prozent der Afghanen haben Strom und fließendes Wasser im Haushalt. Deshalb versteht es sich von selbst, dass die Menschen in Afghanistan sich mehr Energie wünschen, mehr Wasser, aber auch eine bessere Infrastruktur – vor allem was das Abwassersystem angeht.

Als ich die Stadt 1979 verlassen musste, lebten dort 500.000 Menschen. Heute sind es annähernd vier Millionen. Es kann also nicht überraschen, dass der Druck, eine funktionierende Energieversorgung zu gewährleisten, enorm gestiegen ist. Darum sollte es meiner Meinung nach mehr Entwicklungsprojekte auf dem Land geben, die den Menschen Anreize bieten, Kabul zu verlassen. Kabul wird viel zu oft mit dem ganzen Land gleichgesetzt, dabei ist es nur eine Stadt unter vielen anderen Städten unseres Landes.

Im Süden, wo die NATO und die amerikanischen Streitkräfte immer wieder in Kampfhandlungen verwickelt werden, herrscht bei den internationalen Truppen darüber Konsens, dass gekämpft wird, bis das militärische Ziel vollständig erreicht ist. Gibt es eine Übereinstimmung mit der afghanischen Regierung darüber, worin genau dieses militärische Ziel besteht und wie es zu erreichen ist?

Zulfacar: Das Ziel der NATO und der amerikanischen Truppen besteht in der Schaffung von Frieden und Sicherheit. Dennoch würden viele einfache Menschen auch die Ausweitung der Entwicklungsprojekte begrüßen, gerade im Süden des Landes. Die Stationierung der Truppen aber ist eine interne Angelegenheit der NATO, und das wird auch so bleiben.

Deutschland wird sich am militärischen Konflikt bald nun auch mit Tornado-Kampfflugzeugen beteiligen. Wird Deutschland damit zur aktiven Kriegspartei?

Zulfacar: Momentan gibt es um die 3.000 deutsche Soldaten in Afghanistan, die meisten von ihnen sind im Norden des Landes stationiert. Die Tornados werden eingesetzt, um die Bewegungen der aufständischen Truppen aufzuklären. Effektivere Aufklärung und Sammeln von militärischen Informationen werden dazu beitragen, dass weniger Zivilisten entlang der Grenze ums Leben kommen. Nur wenn wir mehr darüber wissen, wo die Aufständischen ihre Lager haben, können wir verhindern, dass Unschuldige bei Bombardements sterben.

Welche kulturellen Impulse können wir von Ihnen als Botschafterin erwarten?

Zulfacar: Ich glaube, dass Dinge im Leben passieren, die außerhalb der eigenen Kontrolle stehen. Ich musste Afghanistan während des Kalten Krieges verlassen, lebte danach in Deutschland, in den USA, dann wieder in Deutschland und schließlich noch einmal in den Vereinigten Staaten. So lernt man zu überleben. Wenn die äußeren Lebensumstände, überhaupt alles um einen herum, sich derart ändern, gelingt es einem entweder, sich darauf einzustellen oder man geht unter.

Im Exil habe ich für den Mindestlohn als Sekretärin gearbeitet, als Sozialarbeiterin, schließlich als Lehrerin und Professorin. Das Gute, das ich von all dem mitnahm, ist, dass ich es gewohnt bin, in ganz verschiedenen kulturellen Umfeldern zu arbeiten. Als ich dann nach Afghanistan zurückkehrte und das unglaubliche Beharrungsvermögen der Menschen dort sah und ihre Hoffnung, gab mir das sehr viel Energie für mein eigenes Leben.

Interview: Martin Gerner

© Qantara.de 2007

Maliha Zulfacar war Professorin für Soziologie an der Universität von Kabul, bevor sie 1979 nach Deutschland floh. 1985 ging sie nach Kalifornien und schloss, abermals in Deutschland, 1997 ihre Promotion in Soziologie ab. Seit dem Sturz des Talibanregimes 2002 war sie als stellvertretende Ministerin für das Hochschulwesen in der afghanischen Interimsregierung auch für den Wiederaufbau des Schulwesens zuständig und sorgte dafür, dass auch Mädchen und Frauen wieder zur Schule gehen konnten. Maliha Zulfacar hat zudem als Produzentin und Regisseurin bisher zwei Dokumentarfilme realisiert.

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