Kleine Fluchten aus dem grauen Alltag
Das Leben des verwitweten Mittsechzigers Abu Raed spielt in eingefahrenen Bahnen. Täglich fährt der stille, in sich gekehrte alte Herr mit dem Bus zum Flughafen Amman. Dort angekommen, schiebt er im blauen Overall der Reinigungskolonne das Putzwägelchen durch die Hallen, geht trotz seines Alters auch schonmal auf die Knie, um den Fußboden sauber zu schrubben.
Die vorbeieilenden Passagiere schauen meist verächtlich auf ihn herab. Kaum jemand kommt auf die Idee, dass in dem blauen Overall ein ungewöhnlich belesener und feinsinniger Mensch stecken könnte.
"Ich wollte eine moderne, jordanische Version des 'ewigen Tramps' schaffen", sagt der 1976 in Amman geborene, am American Film Institute in Los Angeles ausgebildete jordanisch-amerikanische Regisseur Amin Matalqa über die Hauptfigur seines Films "Captain Abu Raed".
Und tatsächlich fühlt man sich von Abu Raed - mit dem jordanisch-britischen Schauspieler Nadim Sawalha sehr gelungen besetzt - zuweilen an Charlie Chaplins bekannteste Filmfigur erinnert: Ein großes Herz, Hingabe und Humor zeichnen beide aus, aber auch Melancholie bis hin zur leisen Verzweiflung am Dasein.
Resignation, Armut und Tristesse
Denn nicht nur Abu Raeds Arbeitstage, auch seine Feierabende sind wenig spektakulär. Der Alltag in seinem Viertel auf dem Zitadellenhügel von Amman ist von Armut, Gewalt und Hoffnungslosigkeit geprägt:
In der Wohnung unter ihm terrorisiert und misshandelt der arbeitslose Nachbar (glaubhaft verkörpert von Ghandi Saber) im Alkoholrausch regelmäßig seine Frau (Dina Ra'ad-Yaghnam). Viele Kinder des Viertels haben kaum Aussicht auf einen Schulabschluss, weil sie schon früh mitarbeiten müssen, um die Familien mit durchzubringen.
In dieser tristen Umgebung gibt es nur wenig, was Abu Raed aus seiner Lethargie reißen kann. Neben der Lektüre – in den Regalen seiner kleinen Wohnung stapeln sich tausende Bücher – ist es vor allem die zauberhafte Aussicht von seiner Terrasse, die den bärtigen Alten mit den getrübten, aber immer noch quicklebendigen Augen gelegentlich aufmuntert.
Beim Blick auf das alte Stadtzentrum und auf das antike römische Theater von Amman gibt sich Abu Raed mit einer Tasse Tee den Erinnerungen an sein früheres Leben hin, hält heimlich leise Zwiesprache mit seiner verstorbenen Frau.
Eine vergessene Pilotenmütze verändert das Leben
Ansonsten bestimmt Resignation Abu Raeds Gefühlshaushalt - bis ihn eines Tages eine an sich banale Begebenheit aus dem gewohnten Trott reißt:
Als er am Flughafen eine vergessene Pilotenmütze einfach mitnimmt und mit dieser Mütze auf dem Kopf nach Hause kommt, hält ihn ein Junge aus der Nachbarschaft allen Ernstes für einen Piloten. Die Nachricht spricht sich herum wie ein Lauffeuer. Schon am nächsten Tag versammeln sich ein ganzes Dutzend Jungen und Mädchen vor Abu Raeds Haustür. Sie wollen wissen, wie es ist, Pilot zu sein.
Abu Raed zögert zunächst, doch dann lässt er sich vom Enthusiasmus der Kinder mitreißen. Täglich sitzt er mit ihnen zusammen und erzählt ihnen Geschichten aus fernen Ländern, lässt sie an seinen Erlebnissen in Paris und New York, in Griechenland und in Indien teilhaben - Länder die er selbst nie bereist hat, sondern nur aus Büchern kennt.
Ausflüge in die Welt der Fantasie
Die Ausflüge in die Welt der Fantasie und die Zuneigung der Kindern führen paradoxerweise dazu, dass der von den Kindern achtungsvoll Captain Abu Raed genannte alte Mann sich auch wieder mehr für die realen Menschen um ihn herum interessiert. Er kümmert sich um den Sohn des gewalttätigen Nachbarn, versucht, das Kind zu schützen. Er versucht mit allerlei Tricks, einen anderen Nachbarjungen vom Arbeiten abzuhalten und ihn zum Schulbesuch zu bewegen.
Schließlich freundet er sich am Flughafen sogar mit einer jungen Frau an. Die dreißigjährige Pilotin Nour (Rana Sultan) ist zwar nicht arm. Aber wegen ihrer Weigerung, sich vom Vater verheiraten zu lassen, fühlt auch sie sich ausgestoßen und dadurch Abu Raed nahe. Zwischen den beiden Außenseitern entwickelt sich eine Vater-Tochter-ähnliche Beziehung von großer Zärtlichkeit, die den Zuschauern ganz am Ende trotz vieler Rückschläge doch noch einen Hauch Hoffnung vermittelt.
Ruhige Bilder, dichter Rhythmus
Amin Matalqa erzählt seine arabische Variante des "ewigen Tramps" in wohl durchdachten, ruhigen Bildern und in einem Rhythmus, so dicht und wohl komponiert, dass der Film an keiner Stelle lang wirkt. Dass das so ist, liegt sicher daran, dass Matalqa – im Gegensatz zu vielen anderen arabischen Regisseuren – nicht nur Regie studiert hat, sondern auch ein professioneller Drehbuchschreiber ist.
Beachtlich ist auch die Präzision, mit der Matalqa die unterschiedlichen Milieus der jordanischen Hauptstadt einfängt, von den Interieurs über die sprachlichen Codes bis hin zu Gesten und Bewegungen.
Am meisten beeindruckt jedoch Matalqas Fähigkeit, komplexe, widersprüchliche Emotionen abzubilden. Obschon gnadenlos sentimental, rutscht die Handlung nie in Kitsch ab. Der Film trifft vielmehr sehr genau das Lebensgefühl der Menschen von Amman: hin und her gerissen zwischen einer manchmal geradezu ätzenden Nüchternheit und der tiefen Sehnsucht nach einem bisschen Verrücktheit, nach einem Funken Poesie dann und wann, die den grauen Alltag lebbarer macht.
Martina Sabra
© Qantara.de 2009
Kinostart von Captain Abu Raed: ab 12. März 2009 in verschiedenen deutschen Städten. DVD mit deutschen Untertiteln: Ab Juli 2009
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