Der Traum vom gelobten Land

In Ihrem Roman "Frauenland" beschreibt Rachida Lamrabet die schmerzhafte Identitätssuche einer Marokkanerin, die nach Belgien ausgewandert ist. Die junge Frau ist zwischen westlichem Lebensstil und den Traditionen ihrer Heimat hin- und hergerissen. Von Volker Kaminski

In Ihrem Roman "Frauenland" beschreibt Rachida Lamrabet die schmerzhafte Identitätssuche einer Marokkanerin, die nach Belgien ausgewandert ist. Die junge Frau ist zwischen westlichem Lebensstil und den Traditionen ihrer Heimat hin- und hergerissen. Eine Rezension von Volker Kaminski

​​ "Frauenland", wie Westeuropa in Marokko genannt wird, weil dort, wie man meint, die Frauen das Sagen haben, stellt für junge Marokkaner durchaus nicht nur ein Ort der Verheißung dar.

Zwar scheint es vielen von ihnen reizvoll, in einer Welt unbeschränkten Konsums ein freies, selbstbestimmtes Leben zu führen, wie es vor allem das Fernsehen pausenlos suggeriert. Doch kaum einer der jungen Männer in Lamrabets Roman "Frauenland" glaubt wirklich, dass ihn in Europa das Paradies erwartet.

Auch Younes vertraut nicht blind den Verlockungen des Westens, als er eine waghalsige Reise per Flüchtlingsboot übers Meer antritt. Er folgt der Stimme seines Herzens, er will nach Mariam suchen, einer jungen belgischen Exilmarokkanerin, in die er sich fünf Jahre zuvor am Strand von Saidia unsterblich verliebte, der er sogleich einen Heiratsantrag machte und den sie aus einer unbeschwerten Urlaubslaune heraus annahm.

Träume als Triebfeder der Handlung

Es sind vor allem Träume – Lebensträume, aber auch ganz reale Träume, die mitunter versteckte Botschaften zu enthalten scheinen –, die für die jungen Menschen in Lamrabets Roman zur Triebfeder ihrer Handlungen werden.

Nicht nur Younes folgt seiner inneren Stimme, die ihn alles Vertraute aufgeben, die Heimat verlassen und in sein Verderben reisen lässt, auch andere Protagonisten, die auf unterschiedliche Weise seinen Weg kreuzen, sind von Träumen und Sehnsüchten erfüllt.

Bildliche Szene aus 1001 Nacht; Foto: wikipedia
Eine verschlungene, an die Erzähltradition aus "Tausend und Einer Nacht" erinnernde Erzählweise: Rachida Lamrabets Roman "Frauenland"

​​ Selbst Mariam, die inzwischen als Kommunalpolitikerin in Belgien arbeitet und den Urlaubsflirt längst vergessen hat, stellt schließlich fest, dass sie manchmal noch von Younes träumt.

Als man ihr erzählt, dass Younes zu ihr fahren wollte und dabei in den Wellen des Mittelmeers ertrank, kann sie trotz ihrer scheinbar unangreifbaren Rationalität und Abgeklärtheit, die sie sich in ihrem Leben angeeignet hat, nicht lange der Anziehung widerstehen und macht sich auf den langen Weg zurück in die Heimat, die sie vor vielen Jahren aufgab.

Mariam ist die Hauptfigur im Roman "Frauenland", für den Rachida Lamrabet mit dem Preis für das beste flämische Debüt des Jahres 2008 ausgezeichnet wurde.

Die Handlung setzt jedoch nicht mit ihr ein, sondern bahnt sich zunächst über Younes und dessen tragisches Ende sowie einem von ihm verfassten Brief, der einem Freund übergeben wird, und weiteren Figuren, die mit Younes' Schicksal verbunden sind, Schritt für Schritt einen Weg bis zu Mariam.

Verschlungene orientalische Erzähltradition

Diese verschlungene, an die Erzähltradition aus "Tausend und Einer Nacht" erinnernde Erzählweise prägt den Roman und macht es dem Leser vor allem in der ersten Romanhälfte nicht leicht der Handlung zu folgen.

Neben den Hauptfiguren Younes und Mariam spielen ein halbes Dutzend anderer Personen eine Rolle. Doch es gelingt der Erzählerin, die verschiedenen Erzählstränge zu bündeln und die unterschiedlichen Orte miteinander in Beziehung zu setzen.

Irgendwann kreuzen sich die Wege aller Protagonisten, so dass der Leser den Überblick behält und den verschiedenen Reisen der einander Suchenden mit Spannung folgt.

Dass Younes sich in Mariam verliebte, ihr Liebesgedichte am Strand vorlas und glaubte, sie sei ebenso verliebt wie er, ist Auslöser tragischer Verkettungen.

Zwar hat sich Mariam auf den Urlaubsflirt eingelassen und dem attraktiven und gebildeten Younes nachgegeben. Doch ihr weiteres Leben stellt einen konsequenten Bruch mit der marokkanischen Herkunft dar. So hat sie alle Verbindungen zu ihrer Heimat aufgelöst und sogar mit ihrer Familie in Belgien gebrochen. Ihr gesamter Ehrgeiz ist darauf gerichtet, den von Tradition und Religion geprägten Strukturen zu entfliehen und sich der westlichen Welt anzugleichen.

Sie hat sich in Europa etabliert, arbeitet als Juristin erfolgreich im Menschenrechtsbereich, hat einen belgischen Freund und blickt mitunter verächtlich auf die in ihren Augen unfrei lebenden marokkanischen Frauen, denen der Mut fehlt, sich aus den männlich geprägten Mustern von Ehe und Familie zu lösen und die zu ihr ins Büro kommen, um sich bei ihr Rat zu holen.

Die Geister der Vergangenheit

Lamrabet zeichnet ihre Heldin als entschlossene, manchmal nahezu kalte Frau, die Konflikte nicht scheut, in die sie durch ihre extreme pro-westliche Haltung als Marokkanerin gerät. Doch im Laufe der Handlung wird auch die Verbitterung und Einsamkeit Mariams deutlich, in die sie ihr eigensinniger Lebensweg gebracht hat.

Rachida Lamrabet; Foto: © Koen Broos
Für ihren Roman "Frauenland" wurde Rachida Lamrabet mit dem Preis für das beste flämische Debüt des Jahres 2008 ausgezeichnet.

​​ So sehr sie sich als Europäerin fühlt und glaubt in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein, so viele Zugeständnisse sie auch an Europa macht (sie ändert sogar ihren Vornamen und verweigert lange Zeit den Kontakt zu ihren Eltern und Geschwistern), so muss sie doch einsehen, dass sie unglücklich ist und den Bruch mit ihrer Vergangenheit nicht verkraftet hat.

In dieser Situation erscheint die Sache mit Younes wie eine willkommene Gelegenheit, sich einer Selbstprüfung zu unterziehen. Ihr Bruder, ein Kleinkrimineller, der in Europa gescheitert ist und als Drogendealer schon einige Male im Gefängnis saß, hat ebenfalls ein unbestimmtes Heimweh – auch er träumt merkwürdigerweise von Younes.

Er schlägt Mariam vor, mit ihr gemeinsam nach Marokko zu fahren und zuvor den spanischen Ort am Meer aufzusuchen, an dem der tote Younes am Strand gefunden wurde.

Ein schwieriger Weg zu sich selbst

Die Erzählerin vermag das Innenleben ihrer Figuren, allen voran Mariams, glaubwürdig darzustellen. Wie sich Mariam schrittweise dem Prozess einer Wiederaneignung verloren geglaubter Wurzeln unterzieht, ihre Widerstände abbaut, innere Konflikte und Schmerzen durchlebt, wie die inneren Kämpfe der anderen ebenso an ihrer Herkunft und dem Verlust ihrer Heimat leidenden Immigranten dargestellt sind, das zusammen ergibt ein packendes Tableau einer verunsicherten Einwanderergeneration, die nicht mehr in ihrer Familientradition wurzelt und doch noch nicht angekommen ist in der westlichen Welt.

Letztlich sind es aber gar nicht nur die Probleme junger Immigranten und Exil-Afrikaner, um die es in diesem unterhaltsamen Roman geht. Auf ihren Reisen befinden sich Lamrabets junge "Traum-Sucher" vor allem auf dem schwierigen Weg zu sich selbst.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2010

Rachida Lamrabet, "Frauenland", Sammlung Luchterhand.

Qantara.de

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