Kinder eines zerrissenen Landes

Der renommierte syrische Autor und Romancier Fawwaz Haddad kritisiert in seinem Essay die zynische Haltung der internationalen Gemeinschaft im Syrienkonflikt und den dramatischen Niedergang seiner Heimat.

Von Fawwaz Haddad

Während der vergangenen vier Jahrzehnte hat Syrien eine entscheidende und einflussreiche Rolle in der Region gespielt, sei es im arabisch-israelischen Konflikt und in der Palästina-Frage, sei es bei der Beendigung des libanesischen Bürgerkrieges mit all seinen schmerzlichen Folgen.

Man denke ferner an die deutliche Positionierung Syriens während der Kriege am Golf, bei denen es teilweise den inner-arabischen Konsens durchbrochen hatte – aus Sicht vieler Beobachter durchaus zu Recht. Wenn es eine Errungenschaft gibt, auf deren Verteidigung das Regime heute noch pochen kann, dann ist es das Gewicht Syriens in der Region, seine herausragende Rolle, dank derer es zu einer festen Größe im regionalen, wenn nicht gar internationalen Machtpoker geworden ist.

Fawwaz Hadad; Foto: Banipal Magazine
Illusion von Frieden und Freiheit: "Syrien hat sich von seinen Träumen verabschiedet, ist ganz tief unten in der hässlichen und leidvollen Realität angelangt und bestattet Tag für Tag seine Toten", schreibt Haddad.

​​Trotz der nachlassenden Durchschlagskraft dieser Rolle konnte das Regime in den zurückliegenden zwei Jahren davon profitieren. Seine Bündnisse mit dem Iran und mit Russland, sowie seine langjährige zentrale Rolle im Nahen Osten haben bewirkt, dass der regionale und internationale Druck kaum mehr der Rede wert ist, auch wenn die Welt die bestialische Niederschlagung der Volksaufstände einhellig verurteilt.

Gespaltene arabische Welt

Das Regime war für seine Nachbarn nun einmal ein berechenbarer Faktor, so dass ein Land wie Jordanien es bisher vermieden hat, sich im sogenannten "syrischen Sumpf" zu verheddern. Innerhalb der arabischen Länder haben sich zwei Lager herausgebildet: Die einen sind auf der Seite der Revolution, die anderen ignorieren sie. Manche von diesen haben insgeheim das Regime unterstützt und nach außen hin geschwiegen.

Hinzu kommt, dass seitens einiger Länder die anfängliche Unterstützung für die Revolution deutlich abgeflaut ist. So sind alle Forderungen nach einem Rücktritt Assads wirkungslos verhallt, ebenso wie die türkischen, amerikanischen und europäischen Drohungen und damit die einhergehenden wirtschaftlichen Sanktionen, welche inzwischen so ausgefeilt und zugespitzt sind, dass kein Bereich mehr von ihnen verschont bleibt.

Dies hat zu einem wirtschaftlichen Niedergang geführt, der sich in einer ungeheuren Inflation und einem Verfall der syrischen Lira gegenüber dem Dollar manifestiert. Vor den Bäckereien, Tankstellen und Gasflaschen-Läden des Landes bilden sich gegenwärtig hunderte Meter lange Warteschlangen.

Angesichts dieses Szenarios der Zerrüttung könnte man fast vermuten, das Regime verfüge über magische Kräfte. Schon zuvor war ihm ja das Zauberkunststück gelungen, ein Scheinbild Syriens als einer Oase des Friedens und der Sicherheit in Umlauf zu bringen. Heute präsentiert es sich als eine Festung des Säkularismus und des Minderheitenschutzes, sowie als Speerspitze im Kampf gegen den Terrorismus.

Entzaubertes Regime

Doch gleichzeitig ist das Regime entzaubert worden, erweist sich nur noch als ein kleines Rädchen im russischen und iranischen Getriebe. Für Russland geht es um die Wiedererlangung seiner Rolle in der Welt, für Iran um die Absicherung seiner regionalen Rolle – und alle beide handeln letztendlich auf Kosten der Syrer. So ist das Regime zu einem Handlanger von Staaten verkommen, welche danach trachten, sich ihren Platz im Herzen der Region und in der Welt zu sichern.

Zerstörungen im nordsyrischen Aleppo; Foto: picture-alliance/AP
Tatenlose Weltgemeinschaft: In dem seit zwei Jahren anhaltenden Bürgerkrieg wurden mittlerweile mehr als 70.000 Menschen getötet. Zahlreiche Städte und Dörfer sind zerstört und die Zahl der Flüchtlinge beläuft sich nach UNHCR-Angaben auf mehr als 1,2 Millionen Syrer.

​​Aber wir sollten den Niedergang nicht größer reden als er ist. Vor seiner derzeitigen Krise war Syrien im Grunde genommen auch nicht Herr über seine Ressourcen und seine Geschicke. In Wahrheit hatten sich die Interessen des Regimes mal mit denen der USA, mal mit denen Frankreichs, der Türkei, der Golfstaaten und anderer überschnitten.

Seine einzige aktive Rolle dabei war es, aus diesen Überschneidungen Profit zu ziehen und den anderen Mächten seine Dienste anzubieten, selbst wenn dies einen Verrat an den ökonomischen und politischen Interessen Syriens bedeutete. Hauptsache, es diente dem Erhalt des Regimes.

Das Schicksal unserer arabischen Länder wird im Ausland geschmiedet, in den Hinterzimmern der Weltpolitik. Das, was dort entschieden wird, bringt unseren Völkern nichts außer einer Zementierung der dem Ausland genehmen Diktaturen – wenn es sein muss, mittels Zerstörungswut, Inhaftierung von Gegnern, sowie deren mal langsame, mal schnelle Eliminierung.

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten bekam die Staatengemeinschaft die heftigen Winde des Arabischen Frühlings zu spüren: das Bemühen der Bevölkerungen, das von der internationalen Politik aufoktroyierte Schicksal zu durchbrechen sowie ihre Hoffnung, eines Tages die Geschicke ihrer Länder selbst in die Hand zu nehmen, anstatt diese der Außenwelt anzuvertrauen.

Zerplatzte Träume

Wenn wir sagen, dass die Welt mit dem syrischen Regime gemeinsame Sache macht, ist das keine besonders skandalöse Erkenntnis, denn so sind wohl nun einmal die Interessen in dieser opportunistischen Welt gestrickt. Für sie zählt nur die nackte Realität, ebenso wie für das Regime. Die Menschen aber haben ihre Träume, nur sind diese offenbar unrealistisch.

Die Realität hingegen hat Blut, Raketen und Jagdbomber im Gefolge. Die Träume in die Realität umsetzen zu wollen erfordert einen hohen Preis, ja manchmal höher als der, den die Menschen aufbringen können.

Diese Etappe hat Syrien schon längst hinter sich, es hat sich von seinen Träumen verabschiedet, ist ganz tief unten in der hässlichen und leidvollen Realität angelangt, bestattet Tag für Tag seine Toten – ohne dass es noch einen Unterschied macht, ob jemand Oppositioneller oder Regimeanhänger ist, sich den Aufständischen oder den regierungstreuen Milizen angeschlossen hat, sich Säkularist oder Salafist nennt. Sie alle sind Kinder des zerrissenen Syriens.

Fawwaz Haddad

© Qantara.de 2013

Der syrische Schriftsteller Fawwaz Haddad, 1947 in Damaskus geboren, gilt als einer der bedeutendsten Autoren des arabischen Sprachraums. Von seinen bisher neun Romanen wurden zwei für den arabischen Booker-Preis nominiert. Seit einigen Wochen lebt er vorübergehend in Doha. Im März erschien sein Roman "Gottes blutiger Himmel" in deutscher Übersetzung im Aufbau-Verlag.

Übersetzt aus dem Arabischen von Rafael Sanchez

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de