Standardwerk des modernen Islam

In thematisch und geographisch überschriebenen Kapiteln bereiten 45 Autoren die Vielfalt islamisch geprägter Gesellschaften zum Ende des 20. Jahrhunderts überzeugend auf.

Von Kurt Scharf

Mit der 5. Auflage des im C.H. Beck Verlag erschienenen, bewährten Standardwerks Der Islam in der Gegenwart haben sich die Herausgeber Werner Ende und Udo Steinbach selbst übertroffen.

Es ist ihnen gelungen, auf nur knapp über tausend Seiten in kurzen, präzisen Darstellungen fast alle möglichen Aspekte dieses umfangreichen Themas in einer allgemeinverständlichen, dennoch auch für den Kenner befriedigenden Weise zu behandeln.

Im Gegensatz zu dem, was der Titel vermuten lässt, bietet das Buch auch eine straffe, informative Einführung in die Geschichte – eine unerlässliche Voraussetzung zum Verständnis vieler aktueller Nachrichten zum Thema. 24 von Kennern der jeweiligen Sprachen verfasste Länderkapitel unterrichten über die große Vielfalt islamisch geprägter Gesellschaften.

Der Islam im Westen

Dazu gehört auch eine kompakte und dennoch differenzierte Übersicht über den Islam im Westen, ein Thema, das immer mehr an Bedeutung gewinnt.

Wer sich nicht mit Klischees von der die Integrationsfähigkeit Europas überfordernden Fremdheit der Muslime oder wohlmeinenden, aber ungenügend durchdachten Bekenntnissen zu einer multikulturellen Gesellschaft begnügen will, tut gut daran, sich in diesem Buch über die Entstehung, die Hintergründe, die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede der muslimischen Minderheiten im Abendland zu informieren.

Einander gegenübergestellt werden nicht nur die wichtigsten Einwanderergruppen mit ihren Traditionen: die Migranten aus dem indischen Subkontinent in Großbritannien, die aus dem Maghreb stammenden, überwiegend naturalisierten Muslime Frankreichs und die aus der Türkei gekommenen Bewohner Deutschlands, sondern auch die wichtigsten Aufnahmeländer:

Frankreich, das mit der laïcité darauf setzt, die Religion aus dem öffentlichen Raum herauszuhalten, das Vereinigte Königreich, in dem eine privilegierte Staatskirche, die sich wiederholt zum Fürsprecher muslimischer Gemeinschaften gemacht hat, einen wichtigen Platz im öffentlichen Leben einnimmt, und dazwischen Deutschland mit seiner positiven Neutralität gegenüber den anerkannten religiösen Organisationen.

Daneben liefert das Buch einen Überblick über die Rolle des Islams und die Lage der Muslime im uns durch die politischen Entwicklungen stetig näher rückenden Südosteuropa, wo Christen und Muslime schon seit Jahrhunderten zusammen (oder nebeneinander) leben.

Damit verzahnt ist das Bild des fundamentalistischen Terrorismus, das manch einem beim Stichwort "Der Islam im Westen" einfallen dürfte. Deswegen empfiehlt sich ergänzend die Lektüre des Abschnitts "Islamistische Gruppen und Bewegungen".

Dieser stellt sie vor, erklärt deren Entstehung und zeigt u.a. auf , dass "Islamisten" und "Neofundamentalisten" in mehrheitlich muslimischen Ländern unterschiedliche Ziele verfolgen und dass die Gewaltbereitschaft auf die überwältigende Mehrheit der Muslime abstoßend wirkt, so dass z.B. in Ägypten und Algerien die islamistischen Aufständischen seit 1996/7 keine nennenswerte militärische Kraft mehr darstellen.

Anders steht es mit Organisationen wie al-Qā'ida, die als eine Antwort auf die Globalisierung mit deren eigenen Mitteln zu verstehen sind.

Innerislamische Diskussion

Alexander Flores informiert über die innerislamische Diskussion zu Säkularismus, Demokratie und Menschenrechten. In seinen Augen ist sie das Thema der Debatte über das Verhältnis zur Moderne.

Er schildert die verschiedenen Positionen: von einer anfänglichen Bereitschaft, vom Westen nicht nur in materiell-technischer Hinsicht zu lernen, sondern auch in sozialen und politischen Fragen, über die nachfolgende Enttäuschung wegen mangelnder Erfolge der begonnenen Reformen und als Reaktion darauf die Ablehnung der Demokratie als einer westlichen politischen Krankheit bis hin zu unterschiedlichen vermittelnden Positionen und macht deutlich, dass auf diesem Gebiet kein "Clash of Civilizations" stattfindet, sondern eher ein "Clash within Civilizations".

Zur Situation der Frauen

Besonderes Interesse verdienen auch Wiebke Walthers Ausführungen zur Situation von Frauen in islamischen Ländern. Sie zeichnet differenziert die geschichtliche Entwicklung ihrer sozialen Stellung in verschiedenen Staaten nach.

Sie zeigt beispielsweise, dass in der Türkei die erste Ärztin ihre Praxis bereits 1922 eröffnete und 1927 die erste Rechtsanwältin, dass die Türkinnen schon in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, also lange vor ihren französischen oder gar Schweizer Schwestern das aktive und passive Wahlrecht erhielten, dass dort früher als in Deutschland eine Frau der Regierung vorstand.

Ferner gelingt es Walther überzeugend darzulegen, dass in neuester Zeit ein Trend zu stärkerer Verhüllung zu beobachten ist und wieder mehr Frauen ein Studium eher als Voraussetzung für eine standesgemäße Ehe zu betrachten scheinen als für eine Berufstätigkeit.

Sie schildert in einem breit aufgefächerten Panorama die Rechtsstellung von Frauen, ihre politischen Wirkungsmöglichkeiten, das Verhältnis zwischen Recht und überkommenem Brauchtum und das regionale Fortdauern vorislamischer Sitten wie etwa der Frauenbeschneidung.

Ausführlich geht sie auf die bei uns ebenso wie in den mehrheitlich islamischen Ländern viel diskutierte Frage ein, ob und wie Frauen sich zu verhüllen haben.

Nicht sehr befriedigend gelöst ist das Problem der Transliteration von Namen und Begriffen aus der arabischen Schrift mit einer zum Teol von der Aussprache weit abweichenden Schreibweise. Aber ansonsten ist dieses überzeugende Werk der deutschen Islamwissenschaft wärmstens zu empfehlen, zumal es dank finanzieller Unterstützung der Robert Bosch Stiftung recht preisgünstig zu erwerben ist.

Kurt Scharf

© Goethe-Institut

Der Autor ist ehemaliger Leiter des Goethe-Instituts in Lissabon und war früher für die Goethe-Institute in Teheran und Istanbul tätig.

Werner Ende und Udo Steinbach (Hg.):Der Islam in der Gegenwart. Entwicklung und Ausbreitung - Kultur und Religion - Staat, Politik und Recht, Verlag C.H. Beck, 5., aktualisierte und erweiterte Aufl., 2005. 1064 Seiten, EUR 49,90, ISBN 3-406-53447-3

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"Der Islam in der Gegenwart" im C.H. Beck-Verlag