Schluss mit der Schwarz-Weiß-Malerei
Als Erben des Osmanischen Reiches hat es den Türken nie an Selbstbewusstsein gefehlt und die Rolle einer Regionalmacht schmeichelt der Selbstwahrnehmung der Elite, vor allem der gegenwärtigen, konservativ ausgerichteten Führungsschicht.
In seiner Rede im Chatham House in London vom November 2010 stellte Präsident Abdullah Gül die Türkei kühn in eine Reihe mit Brasilien, Russland, Indien und China. Oder, wie er es in passend erhabene Worte fasste: "Die Türkei hat die Erfahrung, die Erinnerungen und die Reflexe großer Reiche geerbt und die heutige Türkei wird so ihren rechtmäßigen Platz in dieser neuen und natürlichen internationalen Ordnung einnehmen."
Die Frage ist jedoch, ob die Türkei sich hierbei nicht ein wenig übernimmt. Und auch wird gefragt, ob sich ihre Außenpolitik noch als "pro-westlich" bezeichnen lässt, oder ob sie sich nicht immer unvereinbarer gestaltet mit den Interessen der Region, der sich die Türkei doch seit langem zugehörig zu fühlen behauptet.
Einige westliche wie türkische Kommentatoren meinen, dass die Politik der regierenden AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi) die Türkei weg vom "Westen" und hin zum "Osten" geführt hätte. Ihrer Meinung nach wird dieser Befund gestützt von den türkischen Differenzen mit Israel, von den gestärkten Beziehungen zu den arabischen Nachbarn, wie auch von der diplomatischen Initiative der Türkei zu Verhinderung neuer Sanktionen gegen Iran.
Aber die Schwarz-Weiß-Malerei, in der die Orientierung der türkischen Politik als pendelnd zwischen einer "pro-westlichen" Haltung und einer "anti-westlichen" bzw. "pro-muslimischen" andererseits wahrgenommen wird, verrät mehr über die mentale Ordnung der Welt, als dass sie der komplexen Realität der internationalen Poltik im 21. Jahrhundert gerecht würde.
Eine derart verzerrte Darstellung entspricht der Etikettierung der Türkei als ausschließlich "westlichem" und "säkularem" oder "nicht-europäischem" und "muslimischem" Land.
Wurzeln der "Null-Probleme-Politik"
Der intellektuelle Vater der neuen "Null-Probleme-Politik" in der Türkei ist der gegenwärtige Außenminister Ahmet Davutoğlu. Er wird nicht müde zu betonen, dass die
sehr wohl miteinander vereinbar seien.
Davutoğlu und die gegenwärtige Regierung gehören zum kulturkonservativen Teil der türkischen Elite, die sich nie mit der Idee anfreunden konnte, dass die Türkei – was ihre Identität und Interessen anbelangt – ein ausschließlich "europäisches" Land ist, dessen Möglichkeiten und Verbündete nur im Westen zu finden seien, während der Osten nur als Bedrohung wahrgenommen werden soll.
Seit Jahrzehnten pflegte die kemalistische Elite und die Armee eine Kultur des Misstrauens und der Ignoranz gegenüber den muslimischen Nachbarstaaten, weil sie sie, wie auch den Islam selbst, als nicht fähig zur Modernisierung ansahen, die wiederum mit der Verwestlichung gleichgesetzt wurde.
Als Ergebnis weltpolitischer Verschiebungen und aufgrund der eigenen Neudefinition hat sich das Land nun von einer Position an der "Peripherie des Westens" hinbewegt zu einem angenommenen Schnittpunkt der Regionen – zwischen Europa, dem Kaukasus, dem Nahen Osten und der muslimischen Welt.
Regionale Wiederannäherung
Unter den Slogan der "Null-Probleme-Politik" stellten Ahmet Davutoğlu und die AKP die Annäherung an Syrien genauso wie die an die beiden "problematischsten" Nachbarn, also dem kurdischen Teil des Irak und, zuletzt auch Armenien.
Diese Politik basiert auf einigen simplen Prämissen – eine aktive Rolle der Türkei in der Region und vor allem gute Beziehungen zu ihren Nachbarn und Unparteilichkeit bei regionalen Konflikten.
Gegenüber dem Nahen Osten ist die türkische Politik gleichermaßen orientiert an der Entwicklung von Handel und Investitionen wie auch an politischer Annäherung, und verfolgt damit die gleichen Interessen und Prinzipien wie im Verhältnis zum Westen.
Die Türkei gab damit ihre statische Position als Bewahrerin des Status quo zugunsten einer aktiven Rolle des "guten Nachbarn", "ehrlichen Maklers" und Handelspartners auf. Gleichzeitig ist es ihr bisher nicht gelungen, die lange währenden eigenen Konflikte zu bereinigen, seien es die mit Griechenland, die Zypernfrage, der Streit mit Armenien oder der Wasserkonflikt mit Syrien.
Gegengewicht zu Iran im Nahostkonflikt
Und dennoch geht es in der türkischen Außenpolitik nicht nur um die kühl kalkulierte Durchsetzung der genannten Interessen. Während Davutoğlu den oft zitierten "Neo-Osmanismus" als leere Floskel abtut, identifiziert er sich doch intellektuell sehr wohl mit diesem.
So stellt er nicht nur fest, dass die Türkei ihre historische Verantwortung spürt und eine "Mission" hat, die Sicherheit und Entwicklung in den post-osmanischen Territorien voranzubringen, sondern glaubt auch, dass es genau dies ist, was von der Türkei erwartet wird.
Andere zentrale Faktoren sind die Sympathien, Gefühle und das Prestigestreben des Ministerpräsidenten Erdoğan sowie die Ansichten seiner konservativen Parteibasis. Erdoğan verteidigt die Hamas als legitime Vertretung der Palästinenser und beschuldigt Israel des Staatsterrorismus. Dies trug ihm zwar einige Sympathien in der Öffentlichkeit einiger arabischer Länder ein, während er damit aber bei manchen arabischen Regierungen auf weniger Verständnis stieß.
Das wachsende Engagement der Türkei im Palästina-Konflikt hat einen positiven Effekt, der von westlichen Kommentatoren allzu oft übersehen wird: Die Türkei hat sich nämlich zu einem Gegengewicht zum Einfluss Irans als Garantiemacht der Palästinenserrechte entwickelt.
Nach einer Untersuchung des Palestinian Center for Policy and Survey Research sehen inzwischen 43 Prozent der Palästinenser die Türkei als ihren wichtigsten Verbündeten, weit vor Ägypten oder Iran. Der Grund hierfür dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass die Türkei - im Gegensatz zu den anderen Ländern - keine radikale oder "versteckte" Agenda bei ihrem Engagement für die Palästinenser verfolgt.
Die Wahrnehmung der Türkei als unparteiischer (insbesondere wenn es um die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten geht), territoral und hegemonial saturierter muslimischer Staat verleiht ihr eine diplomatisch äußerst vorteilhafte Position im komplexen System nahöstlicher Rivalitäten und Konflikte.
Es erlaubt Ankara, als Vermittler nicht nur in den internen Konflikten in Libyen, Irak und dem Libanon zu fungieren, sondern auch zwischen Pakistan und Afghanistan sowie – bis zum Ausbruch des Gazakrieges – in geheimen Verhandlungen zwischen Israel und Syrien, und dies trotz der nach außen behaupteten guten Beziehungen zur obersten Führung der Hamas.
Die selbstgewählte "Distanziertheit" der modernen, säkularen Türkei in der Nahostpolitik war für dieses Engagement eine ebenso entscheidende Vorbedingung wie der pro-palästinensische Aktivismus der AKP, der dem Status der Türkei in der Region sehr zugute kam.
Der Westen sollte gegenüber dieser neuen, aktiveren Rolle der Türkei im Nahen Osten keine Bedenken hegen, vor allem, wenn sie damit zur Lösung der Probleme in der Region und bei ihren Nachbarn beitragen kann. Paradoxerweise waren es eben solche Probleme, die in der Vergangenheit als Argumente gegen eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union ins Feld geführt wurden.
Die Türkei als Vorbild?
Doch ist es tatsächlich so, dass es der Türkei gelingt, einen nachhaltigen Einfluss bei seinen östlichen Nachbarn auszuüben und so als "Modell" für deren Übergang zu demokratischeren Strukturen zu fungieren, wie es die türkische Elite so gern für sich in Anspruch nimmt?
Dafür ist ihr Politikansatz dann wohl doch ein zu selektiver und einer, der eher reagiert als dass er agieren würde. Vom "Arabischen Frühling" jedenfalls wurde die türkische Politik nicht weniger überrascht als andere Staaten auch.
Die "Null-Probleme-Politik", das Interesse an einer Intensivierung des Handels und einer Sicherung von Energiequellen, sowie der Ehrgeiz, als Vermittler bei heiklen diplomatischen Verhandlungen mit autoritären Regimen aufzutreten, vertragen sich auch nicht immer mit offener Kritik an Menschenrechtsverletzungen oder gar direkter Unterstützung für Reformforderungen.
Ministerpräsident Erdoğan bekundete zwar offene Solidarität mit der Protestbewegung in Ägypten und gehörte zu den ersten Politikern, die Präsident Mubarak zum Rücktritt aufforderten.
Gleichzeitig aber hatte er viele Anstrengungen aufgewendet, die wirtschaftlichen Beziehungen zu Syrien und Libyen zu verbessern, was dazu führte, dass er sehr viel länger brauchte, um auch die Massaker an den dortigen Demonstranten zu verurteilen und sich dem internationalen Ruf nach Reformen anzuschließen.
Ein anderes Beispiel ist Aserbeidschan. Dieses Land ist wohl der Nachbar, der dem türkischen Einfluss am stärksten ausgesetzt ist, denn nicht nur fließen hierhin hohe Investitionssummen aus der Türkei, sondern auch kulturell und über die Medien existiert eine traditionell enge Verbindung.
Und auch wenn es sich bei diesem Land um den autoritärsten Staat im südlichen Kaukasus handelt, kritisiert doch niemand in Ankara die eklatanten Verletzungen der Menschenrechte in Aserbeidschan. Im Iran plant die Türkei, und das entgegen allen Sanktionen und Vorbehalten von Seiten der USA, die gemeinsame Entwicklung des Gasfeldes Süd-Pars sowie den Bau einer Export-Pipeline.
Diese Politik gründet sich nicht auf Sympathien für das "islamische" Regime, sondern auf gemeinsame Interessen. Gleichzeitig zielt sie aber auch auf einen Schutz vor einer Eskalation im Konflikt mit dem Westen; eine weitere Isolation Irans soll unter allen Umständen verhindert werden.
Ein Symptom dieser "geschäftsorientierten" Politik war die unkritische Reaktion Erdoğans auf die Wahlmanipulationen im Iran und sein Schweigen angesichts der brutalen Unterdrückung der iranischen Opposition und Zivilgesellschaft, die in scharfem Kontrast zu seiner selbsterklärten Rolle als Verteidiger der Menschenrechte steht, in der er sich in anderen Konflikten präsentierte.
So scheint die Antwort auf die Frage, ob die Türkei wirklich als Modell für andere Länder dienen kann, letztlich von der Perspektive abzuhängen, also ob man sie im Westen oder im Osten stellt. Viele in der Europäischen Union und in der Türkei selbst weisen zurecht auf den Druck hin, dem die Medien in der Türkei ausgesetzt sind, auf die Lage der Kurden und auf den starken Einfluss der Politik auf das Justizsystem.
Der Demokratisierungsprozess in der Türkei darf nicht auf halbem Wege stehen bleiben, wenn er als Inspiration zu politischer und wirtschaftlicher Modernisierung dienen soll – mit einem säkularen westlichen Gesicht und einem islamischen zugleich.
Erik Siegl
© Erik Siegl 2011
Erik Siegl ist Programmkoordinator der Heinrich Böll-Stiftung in Prag.
Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de