Der Traum ist aus
Schusssichere Westen, Tränengas, Wasserwerfer an allen zentralen Zufahrtsstraßen – die Polizei war an diesem Samstagabend (31.05.2014) im Istanbuler Viertel Kadiköy gut vorbereitet für das, was kommen sollte. Mehrere Hundert Beamte warteten seit dem späten Nachmittag auf im Zentrum des oppositionellen, säkularen Istanbuls auf die Demonstranten, die des Jahrestages der Gezi-Proteste gedenken würden.
Nur: Die Massen kamen nicht! Nur ein paar Schaulustige sahen sich bei Einbruch der Dunkelheit den Einsatzkommandos der Polizei gegenüber, das sonst für seine Proteste bekannte Stadtviertel im asiatischen Teil Istanbuls lag gespenstisch ruhig da. Die paar grölenden Störenfriede, die schließlich doch noch auftauchten, wurden mit einer fast schon ungewohnt sanften Salve Tränengas vertrieben, bevor die Gäste der zahlreichen Fischrestaurants von Kadiköy auch nur annähernd bei ihrem Abendessen gestört werden konnten.
Das war er also – der erste Jahrestag der historischen Gezi-Proteste, die im Sommer 2013 wochenlang die ganze Türkei, ja die ganze Welt beschäftigt hatten. Proteste, die mit dem Widerstand gegen ein Bauprojekt im Istanbuler Gezi-Park begannen, und sich schon bald zu einem Volksaufstand ausbreiteten, der wohl jede andere demokratische Regierung in Europa zu Fall gebracht hätte.
Autoritär wie eh und je
Doch der türkische Ministerpräsident, dem die Wut der Demonstranten damals größtenteils galt, ist nicht gefallen. Im Gegenteil: Niemals schien die Macht der AKP in den letzten zwölf Jahren ihrer Regierungszeit so gefestigt wie heute. Nicht nur das eindeutige Ergebnis bei den Kommunalwahlen Ende März, sondern auch Erdogans selbstbewusstes Auftreten im In- und Ausland, seine Entscheidungen im Parlament, der Umgang mit seinen politischen Widersachern – alles scheint genauso kompromisslos und autoritär wie eh und je.
Die, die noch vor Kurzem den mächtigen Ministerpräsidenten herausfordern wollten, wirken dagegen blass und ideenlos, wie etwa die größte Oppositionspartei CHP, oder aber sie sind längst wieder politisch bedeutungslos geworden, wie beispielsweise die Ende 2013 gegründete "Gezi-Partei".
Selbst der jüngste Protestaufruf der sogenannten "Taksim-Solidaritäts-Plattform" glich fast schon einem Eingeständnis in die eigene Niederlage: "Alle Plätze, Parks, Viertel und Städte werden (von der Regierung) besetzt gehalten, um uns davon abzuhalten, den Mord an mehr als 300 Bergwerksarbeitern in Soma zu betrauern, den Tag der Arbeit am 1.Mai zu feiern oder am 8. März, dem Frauentag, auf die Straßen zu gehen … Um die Welt daran zu erinnern, dass wir unsere Forderungen nicht aufgegeben haben, sind wir am 31. Mai am Taksim!"
Wie nachhaltig war Gezi?
Ein Jahr nach Gezi lautet das Fazit vieler Türken: Nichts in ihrem Land ist heute besser als vor einem Jahr. Nichts hat sich in den vergangenen zwölf Monaten so verändert, dass die Demonstranten von damals sich heute zufrieden zurücklehnen könnten. Doch anstatt deswegen noch lauter zu schreien, sind viele von ihnen inzwischen verstummt.
Vereinzelte Zusammenstöße mit der Polizei sind gewiss nicht vergleichbar mit der Massenbewegung vom letzten Jahr, die selbst Hausfrauen und Mütter, brave Beamte und Kopftuchträgerinnen mobilisierte, auf die Straße zugehen und zu protestieren.
Anlässlich des ersten Jahrestags der Proteste stellt sich die drängende Frage, ob Gezi letztlich gescheitert ist. Sind der Wahlsieg der AKP, ihr jüngst erlassenes Geheimdienstgesetz, die anhaltenden Angriffe auf die Pressefreiheit und die Polizeigewalt nicht Beweis genug dafür, dass die Gezi-Proteste letztlich umsonst gewesen sind? Dass es eben nicht gereicht hat, gemeinsam mit Hunderttausenden "Dagegen!" zu schreien, wenn man danach nicht in der Lage ist zu definieren, was man eigentlich stattdessen will und keine politischen Alternativen entwickelt?
Atatürk-Anhänger und Kurden, Säkulare und sogenannte antikapitalistische Muslime, Transvestitenverbände und Umweltschützer – sie alle waren (und sind) sich bis heute darin einig: Erdogan muss weg! Nur in dem Punkt, wer oder was ihn ablösen sollte, herrschte in der heterogenen Gezi-Bewegung niemals wirklich Einigkeit.
Zahnlose Tiger
Wie ein Geburtsfehler zieht sich das Problem durch alles, was den ersten Protesten von Ende Mai 2013 folgte. Wenn der Istanbuler Politikwissenschaftler Hatem Ete davon spricht, dass die Gezi-Bewegung sich in eine Art "Anti-Erdogan-Partei" verwandelt hat, dann gleicht das deswegen einem politischen Todesurteil. Zumindest aber ist es der Hauptgrund dafür, dass die Gezi-Aktivisten von Anfang an als zahnloser Tiger vor der geschlossenen Macht der Regierung und ihrer Anhänger standen.
Dass diese Macht längst zur Übermacht geworden ist, zeigte nicht nur der klare Wahlsieg der AKP bei den Kommunalwahlen. Auch die Gerichtsprozesse, bei denen die Staatsanwaltschaft in diesen Tagen für einstige Demonstranten bis zu 98 Jahre Haft forderte, die Prozesse gegen Buchautoren, die angeblich den Ministerpräsidenten beleidigt haben sollen, die Überwachungskameras, die strategische Orte der Opposition, wie den Taksim-Platz und den Gezi-Park, seit vergangenem Sommer komplett erfassen, und nicht zuletzt auch die rund 25.000 Polizisten, die am letzten Wochenende in Istanbul im Einsatz waren – all diese Maßnahmen sorgen dafür, dass ein zweites Gezi kaum möglich erscheint. Vielen einstigen Aktivisten fehlt nicht mehr nur die Hoffnung, sondern auch der Mut, erneut auf die Straße zu gehen und gegen Erdogan zu protestieren.
Und trotzdem: "Gezi ist vielleicht an den Wahlurnen gescheitert, aber noch längst nicht gesellschaftlich", so das Fazit eines Aktivisten. "Wir haben unseren Protest nicht aufgegeben, wir haben ihn nur verändert", sagen auch die zahlreichen Gründer von Bürgerinitiativen, die seit dem letzten Sommer am Bosporus aktiv sind. Mal engagieren sie sich für sogenannte Nachbarschaftsgärten, mal sammeln sie Unterschriften gegen ein Bauprojekt in ihrem Wohnviertel, mal bilden sie freiwillige Wahlbeobachter für den nächsten Urnengang aus. Alles politische Aktivitäten, die bislang in der eher als unpolitisch geltenden türkischen Gesellschaft die Seltenheit waren.
Was zählt, ist ein langer Atem
Es sind Zeichen wie diese, die vor allem Kulturschaffende und Intellektuelle am Bosporus weiter hoffnungsvoll stimmen. Noch während die Proteste im Sommer 2013 in vollem Gange waren, hatten viele von ihnen vor überzogenen Erwartungen für die nahe Zukunft gewarnt. Denn soziale Bewegungen, das hat die Geschichte immer wieder gezeigt, sind eben keine Erdbeben. Sie verändern die Welt nicht in wenigen Augenblicken, sondern höchstens über Jahre oder Jahrzehnte hinweg. Auch das vorläufige Scheitern der "Gezi-Partei" hatten politische Beobachter und Experten wie Yüksel Taskin von der Istanbuler Marmara-Universität deswegen vorausgesehen.
Der Politikwissenschaftler verweist gern auf das Beispiel Frankreich: Direkt im Anschluss an die Proteste vom Mai 1968 gewann dort der konservative Charles de Gaulle ein weiteres Mal die Wahlen. Haushoch sogar. Ein niederschmetternder Moment für all jene, die auf einen Wandel gehofft hatten. Doch der spätere Rücktritt de Gaulles und der folgende Wandel in Frankreich lehren auch: Ob Gezi gescheitert ist oder nicht, lässt sich eigentlich erst in einigen Jahren beurteilen. Was bis dahin zählt, ist ein langer Atem.
Luise Sammann
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de