Warum ein ziviler Putsch folgen könnte
Es gibt Türken, die haben sich gefreut, als sie am Freitagabend von einem Militärputsch gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan hörten. Laute Freudenschreie wagten sie nicht, nur ein innerliches Jubilieren, weil schon bisher öffentlich zur Schau getragene Gegnerschaft zu diesem Präsidenten gefährlich werden konnte.
Wie groß muss die Frustration über Erdoğan und seine zuletzt immer autoritärere Politik sein, wenn ein Militärputsch solche Erleichterungsgefühle auslöst? Und dies keineswegs bei engen Freunden der Generäle, sondern bei Menschen, die am Zustand der türkischen Demokratie verzweifeln?
Die heimlichen Hochgefühle aber hielten nicht lange an. Die Putschisten machten sehr schnell klar, dass sie von mehr Demokratie nun gar nichts halten. Sie bombardierten das Parlament in Ankara.
Am Samstag (16.7.2016) tagten die Abgeordneten dann im verwundeten "Haus des Volkes". Während auf den Gängen noch der Schutt lag, zeigten sich die Parlamentarier so einig wie seit Jahren nicht. Von der islamischen Regierungspartei AKP über die CHP, die sich als Hüterin der Republik versteht, bis hin zu den Kurden: Alle verurteilten den versuchten Staatsstreich - und dessen Urheber als "Bande" und "Terroristen".
Putsch ohne Volk
Das also haben die Putschisten erreicht, mit ihrer verwegenen, hochgefährlichen, dilettantischen Aktion: Die türkische Politik zeigt sich dort geeint, wo zuletzt mit größter Bitterkeit und bisweilen mit Fäusten gestritten wurde. Das ist das Gute. Doch das Schlechte kommt sogleich. Auf den versuchten Militärputsch könnte nun eine Art ziviler Putsch folgen. Böse Zeichen dafür gibt es bereits.
Regierungschef Binali Yıldırım droht mit der Wiedereinführung der Todesstrafe für die Putschisten. Damit erweist sich der erst jüngst von Erdoğan zum Premier promovierte enge Freund des Präsidenten als Scharfmacher in einer schon aufgeladenen Situation.
Die Todesstrafe wurde in der Türkei auf Druck der EU und des türkischen Volkes nach dem ersten Wahlsieg der AKP auch für Kriegszeiten abgeschafft. In der Putschnacht übten in Istanbul einige Bürger bereits Selbstjustiz, mindestens ein Soldat soll dabei getötet worden sein, andere wurden nur mit Mühe von der Polizei vor einem entfesselten Mob bewahrt.
Die Drohung mit der Todesstrafe erinnert an finsterste Zeiten in der Türkei: an den Militärputsch vom 12. September 1980. Von allen Eingriffen des Militärs in die türkische Politik hatte dieser die schrecklichsten und längsten Folgen. Tausende verschwanden damals in den Gefängnissen, wurden gefoltert, 50 Todesstrafen wurden vollstreckt. Vor allem Kurden wurden in der berüchtigten Haftanstalt von Diyarbakır erst radikalisiert. Intellektuelle wurden aus dem Land gejagt, ein Verlust, der bis heute spürbar ist. Die Generäle förderten dann die religiöse Erziehung an den Schulen, weil sie meinten, damit linkes Gedankengut zu vertreiben. Und sie schrieben die bis heute gültige autoritäre Verfassung, die sich Erdoğan jetzt zunutze macht.
Bis zum Sonntag (17.7.2016) wurden Tausende Armeeangehörige als mögliche Putschisten verhaftet. Der Generalstabschef war nicht dabei, das unterscheidet den gescheiterten Staatsstreich vom Drama von 1980. Aber bei den Arrestierten handelt es sich auch nicht um ein paar Vertreter niederer Ränge. Es sind Kommandeure darunter, Offiziere, Generäle. Dazu zwei Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs, weitere hohe Richter, zudem wurde ein Fünftel aller Richter seiner Ämter enthoben.
Sie alle sollen zur Gülen-Bewegung gehören, einer religiösen Bruderschaft, die auf den Prediger Fethullah Gülen hört, der im US-Exil lebt. Diesen früheren Weggefährten macht Erdoğan schon seit 2013 für fast alles verantwortlich, was an seinem Image kratzt: Korruptionsvorwürfe, kritische Medien, Konkurrenz um Spendenmillionen und religiöse Inbrunst.
Der Slogan der Putschisten klingt eher nach einer Atatürk-Formel
Von außen ist der teils absurde Wettstreit kaum zu durchschauen. Der Prediger in Pennsylvania bestreitet eine Verwicklung in den Putsch. Dessen Anhängern war es zuletzt nicht mal gelungen, eine eigene Partei in der Türkei zu gründen.
Der Slogan der Putschisten ("Frieden im Land") klingt auch eher nach einer Atatürk-Formel und damit nach alter, weltlicher Putsch-Tradition. Dafür spricht zudem die maßgebliche Beteiligung der Luftwaffe, die als Hort des Kemalismus gilt.
Aber nichts ist ausgeschlossen, und die Verunsicherung und die Ängste vieler Türken dürften eher wachsen als abnehmen. Es sind Ängste vor dem Unberechenbaren, vor einer Hexenjagd, der Verfolgung von Kritikern der Regierung, vor einem dauerhaftem Ausnahmezustand, einem Umsturz von oben.
Erdoğan hat den Putschversuch inzwischen als "Geschenk Gottes" bezeichnet. Schon angesichts der vielen Toten ist das ein höchst seltsamer Ausdruck. Aber er verrät, was der Präsident sofort verstanden hat: Dieser Anschlag auf seine Macht hat seine Macht nur gestärkt.
Christiane Schlötzer
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