"Dieses Land gehört auch mir"
Ihr Schreibstil wird häufig mit dem von Kafka verglichen. Dass Sie am 16. August 2016 mitten in der Nacht festgenommen wurden und vier Monate im Gefängnis saßen, ist tragischerweise ebenfalls sehr kafkaesk. Wie erklären Sie es sich, dass Sie als Schriftstellerin von einem Tag auf den anderen inhaftiert wurden?
Aslı Erdoğan: Ehrlich gesagt war auch ich sehr verwundert. Gleichzeitig habe ich es erwartet, man spürt so etwas. Diesen kafkaesken Prozess führe ich auf folgendes zurück: Ich bin keine Kurdin und nicht politisch aktiv. Aber ich habe etwas zur Kurdenproblematik geschrieben. Nach einem Bericht der UN sind im Südosten 2.000 Zivilisten gestorben. Sobald man fragt, wie sie gestorben sind, muss man einen sehr hohen Preis bezahlen. Das sind Versuche, uns sogenannte "weiße Türken" einzuschüchtern: Mischt Euch nicht ein, lasst uns mit den Kurden machen was wir wollen, sonst bestrafen wir Euch härter als die PKK!
Werden Sie Ihre Erfahrungen im Gefängnis auf literarische Weise verarbeiten?
Erdoğan: Auch wenn es sich seltsam anhört, meine Seele ist noch immer im Gefängnis. Die Prozesse werden noch eine Zeit dauern, um mir zu sagen: Wenn Du aufmuckst, gehst Du wieder rein! Schreiben ist das einzige, was mir bleibt, um mit diesen Traumata umzugehen. Ich habe noch nicht den Punkt erreicht, an dem ich sagen könnte, ich bin draußen und kann meine Wunden heilen. Aber ich fühle mich verpflichtet, alles aufzuschreiben. Die Geschichten der Frauen, die ich dort kennengelernt habe, müssen erzählt werden.
Sie sagten einmal, dass Ihr stärkstes Bindeglied zur Türkei die Sprache ist. Haben die Ereignisse seit der Verhängung des Ausnahmezustands im vergangenen Jahr und Ihre Erfahrungen im Gefängnis Ihre Sprache verändert?
Erdoğan: Das ist eine sehr gute Frage, die mir noch nie jemand gestellt hat. Einer meiner Texte, die in meine Akte aufgenommen wurde, ist ein vollständiger innerer Monolog darüber wie die Gewalt der Außenwelt, der Faschismus, die innere Welt und damit unsere Sprache verletzt. Adorno sagte einmal: Nach Auschwitz kann man nicht mehr dichten. Man muss eine Sprache finden, die diese Gewalt widerspiegelt. Das ist nicht leicht. Als ich mich mit dieser Frage beschäftigte, fand ich mich im Gefängnis wieder.
War es für Sie nicht eine äußerst paradoxe Situation vom Ausland Preise bekommen, während Sie im eigenen Land im Gefängnis sitzen?
Erdoğan: Dieser Widerspruch hat bereits früher, um das Jahr 2000, eingesetzt. Im Gefängnis erreichte er dann seinen Höhepunkt. Während der Gefängniswärter mich beschimpfte, forderten Abgeordnete im Europaparlament meine Freilassung. Meine Verlegerin ist die derzeitige französische Kulturministerin. Hier aber kann mich ein Polizist schlagen, mich abführen, während er mich meinen Haaren zerrt. Ich versuche, das nicht allzu persönlich zu nehmen.
Fühlen Sie sich in Istanbul oder der Türkei noch zuhause? Viele Künstler, Akademiker und Journalisten ziehen es vor, die Türkei zu verlassen.
Erdoğan: Ich verurteile niemanden, der wegen seiner persönlichen Sicherheit geht. Im Gegenteil. Ich fühle mich bereits seit 15 Jahren in der Türkei nicht mehr zuhause. Vielleicht sogar, seitdem ich auf der Welt bin. Mein Zuhause, meine Heimat, meine Nabelschnur ist die Sprache. Ich bin eine Autorin des Türkischen. Ich liebe es, auf Türkisch zu schreiben und habe ein sehr persönliches Verhältnis zu meiner Sprache. Wäre ich in einem anderen Land, würde dieses Verhältnis zerrüttet. Wenn man die eigene Sprache nicht hört, verliert man ihren Rhythmus, ihren Klang. Das Exil ist schwer zu ertragen, aber natürlich noch immer besser als das Gefängnis. Doch bei mir hat sich inzwischen ein kindlicher Trotz eingestellt. Je mehr die Leute mir sagen, ich solle gehen, desto eher will ich bleiben. Ich sage ihnen dann: Dieses Land gehört auch mir! Zum ersten Mal habe ich ein Zuhause. Auch wenn es sehr schwierig geworden ist, die Verhältnisse in der Türkei auch nur ansatzweise zu hinterfragen.
Sie wirken meist introvertiert und waren gleichzeitig immer die Stimme der Unterdrückten. Seit Ihrer Verhaftung stehen Sie jedoch zunehmend im internationalen Rampenlicht. Wie ist das für Sie?
Erdoğan: Man glaubt ja immer, Schriftsteller wollten berühmt sein. Das mag für viele stimmen. Ich bin aber immer davor weggelaufen. Ich habe geschrieben, um bestimmte Fragen stellen zu können. Aber jetzt muss ich etwas sagen, um meinem Gewissen treu zu bleiben. Ich trage Verantwortung – besonders, seitdem ich erfahren habe, was sich im Gefängnis abspielt. Schweigen ist für mich Luxus. Ich fühle mich verpflichtet, auch für die Inhaftierten zu sprechen. Ausgesucht habe ich mir das freilich nicht. Gerne würde ich wieder an den Tag vor meiner Verhaftung zurückkehren.
Sie haben als Schriftstellerinnen symbolisch am "Marsch für Gerechtigkeit" teilgenommen. Wieso denken Sie, dass es innerhalb der Opposition keinen Zusammenhalt gibt?
Erdoğan: Der Hauptgrund für die fehlende Einheit der Opposition ist auf den türkischen und bis zu einem gewissen Grad auch auf den kurdischen Nationalismus zurückzuführen. In der Kurdenfrage ist die Opposition äußerst gespalten. In einer Gesellschaft, die vom chauvinistischen Nationalismus dominiert wird, existieren Diskriminierung und Vorurteile. Und das gilt auch für die Parteien.
Sie haben erzählt, dass Sie im Gefängnis viel Solidarität von Frauen erfahren haben. Ist ein Teil des Problems der Türkei, dass in einer patriarchalischen Gesellschaft so etwas im Hintergrund bleibt?
Erdoğan: Genauso ist es. Meine Inhaftierung und die der 70-jährigen Necmiye Alpay sind darauf zurückzuführen. Kurden und Frauen sind die beiden Gruppen, die davon bedroht sind, alles Errungene wieder zu verlieren. Der chauvinistische Militarismus wird nicht nur von der AKP getragen, sondern auch von denen, die sich als Oppositionelle bezeichnen. In der türkischen Gesellschaft ist die Frauenfeindlichkeit weit verbreitet. Deswegen betrachte ich die Solidarität von Frauen voller Hoffnung. Alle Proteste und Demonstrationen haben gezeigt, dass die Frauen mutiger waren als die Männer.
Das Interview führte Ceyda Nurtsch.
© Deutsche Welle 2017
Aslı Erdoğan wurde im August 2016 wegen ihrer Kolumnen in der pro-kurdischen Zeitung "Özgür Gündem" verhaftet. Sie wurde viereinhalb Monate in einem Istanbuler Frauengefängnis festgehalten und aus gesundheitlichen Gründen aus der Untersuchungshaft entlassen. Im Juli erhielt sie den Stuttgarter Friedenspreis und den Leipziger Preis für Pressefreiheit.