Die Ausweitung der Agitationszone
Es gibt keine genauen Statistiken zu Morden und Entführungen im Irak, denn die Behörden haben kein Interesse daran, die alltäglichen schlechten Nachrichten langfristig zu dokumentieren. Auch die irakische Presse schenkt solchen Taten lediglich dann wirklich Aufmerksamkeit, wenn sie die Öffentlichkeit erschüttern. In diesen Fällen übernimmt sie zuerst "gezwungenermaßen" die offizielle Darstellung der Behörden, um sie dann durch eine Geschichte zu ersetzen, die von einem ihrer politisch affiliierten oder mit Milizen verbandelten Finanziers bestimmt wird.
Verbreitet wird diese "Geschichte" dann über die sozialen Netzwerke, deren Mechanismen dafür sorgen, dass jedes Ereignis nur noch oberflächlich behandelt wird, bevor es im Wust neuer Geschichten untergeht. Immer neue Geschichten befriedigen die Sensationsgier, sie befeuern aber auch konfessionelle Spannungen und verbreiten Hetze, die in letzter Konsequenz zu Mord und Entführung führen kann.
Tummelplatz des Verbrechens
Der Irak, das Zweistromland dessen "Lebensadern" langsam und ebenfalls ohne große Aufmerksamkeit austrocknen, ist zu einem Tummelplatz des Verbrechens geworden, in dem sich die zweifelhafte Kunst entwickelt hat, zu morden und dieses Unrecht zu rechtfertigen.
In diesem Chaos aus Gewalt und Verbrechen verkamen auch der Staat und die Behörden zu einem Spiegelbild der hässlichen Fratze von Populismus und Konfessionalismus, die die Iraker und Irakerinnen zu Opfern der sich ausweitenden Todesmaschinerie machte. Es fehlt ihnen an tieferen Kenntnissen und Einschätzungsvermögen, um den Zusammenhang von Terrorismus, sozialer Gewalt und deren Ursachen in Verbindung mit den zahllosen Opfern zu verstehen.
14 Jahre sind vergangen seit das alte Saddam-Hussein-Regime durch eine Besatzungsmacht gestürzt und ein "neues" etabliert wurde. Bereits infiziert mit dem zersetzenden Virus des "alten" Regimes wurden die Überreste des nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls unter dem Nachfolgeregime endgültig zu Grabe getragen. Und in all diesen Jahren haben es die nachfolgenden Regierungen und ihre Ministerien nicht geschafft, ein offizielles Archivierungsprojekt ins Leben zu rufen, das der Öffentlichkeit verlässliche Statistiken über die Opfer im Irak zur Verfügung stellt.
Gäbe es nicht die monatlich von den Vereinten Nationen im Irak (UNAMI) veröffentlichten Statistiken zu Gewaltopfern in den Städten und die Website "Iraq Body Count", die die Zahl der getöteten Iraker dokumentiert, die Fälle kategorisiert und die Identität der Opfer ermittelt, dann wäre es unmöglich, verlässliche Zahlen über das Phänomen der grassierenden Gewalt im Irak zu finden.
Der Protest der Regierung gegen die monatliche Veröffentlichung der Opferzahlen durch die UNAMI, die im Dezember 2016 auch die während der Operation zur Rückgewinnung Mossuls getöteten Soldaten umfasste, stellt die Ignoranz und maßlose Inkompetenz der Behörden unter Beweis. Er steht beispielhaft für ihre Bemühungen, die Veröffentlichung verlässlicher Zahlen zu unterbinden.
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedrohung durch Militarisierung und Bewaffnung unter verschiedensten Bannern macht der Protest außerdem deutlich, wie groß die Angst davor ist, dass die Konsequenzen des sicherheitspolitischen Versagens ans Licht kommen.
Mord und Totschlag als Vorboten eines neuen Regimes
Am 10. April 2003 schwappte eine Säuberungswelle über den Irak. Diese Säuberungsaktion zielte anfangs auf die Beseitigung von Anhängern des Regimes Saddam Husseins ab, entwickelte sich jedoch schnell zu einer organisierten aber indiskriminatorischen Tötungsmaschinerie, die Jagd auf Baathisten, Sicherheitskräfte, Militärs und Kampfpiloten machte. Sie erstreckte sich auch auf Künstler sowie Intellektuelle – und machte nicht einmal vor Gegnern des gestürzten Regimes halt, die sich der Opposition gegen das neue Regime angeschlossen hatten.
Das erste Opfer einer Reihe von öffentlichkeitswirksamen Mordanschlägen war Abd al-Madschid al-Khoei. Der Sohn des schiitischen Großayatollahs Abu al-Qasim al-Khoei wurde mitten auf dem Vorplatz der Imam-Ali-Moschee in Nadschaf getötet. Es war eine abscheuliche Tat, die das künftige Gesicht des Iraks offenbaren sollte – ein Irak, in dem der Griff nach der Macht schließlich außer Kontrolle geriet.
Am 29. August des gleichen Jahres wurde der Vorsitzende des ehemaligen "Obersten Rates für die islamische Revolution im Irak", Mohammad Baqir al-Hakim, an einem der Zugänge zu ebenjenem Vorplatz auf dem auch al-Khoei umgebracht wurde, durch eine Explosion getötet. Nur knapp einen Monat später, am 25. September 2003, erschossen Unbekannte das Mitglied des provisorischen Regierungsrates Aqila al-Hashimi vor ihrer Wohnung im Westen Bagdads. Laut ihren Angreifern musste sie sterben, weil sie keinen Schleier trug und bekennende Anhängerin des Säkularismus war. Bereits am 17. Mai 2003 war der Präsident des Regierungsrates durch einen Bombenanschlag auf seinen Konvoi am Eingang zur Grünen Zone in Bagdad ums Leben gekommen. Seine Mörder verschwanden im Dickicht der zahllosen bewaffneten Fraktionen im Land.
Diese politischen Morde waren nur der Anfang des Blutvergießens, das sich unter verschiedenen Vorzeichen seit 14 Jahren hinzieht. Bagdad und die Städte im Süden des Iraks waren und sind nach wie vor besonders von derartigen Mordanschlägen und Entführungen betroffen. Jeder Versuch, diese Taten aufzuklären, erfordert vermutlich jahrelange riskante Untersuchungen, die für die Ermittler tödlich enden können.
Al-Malikis Gewalt gegen das eigene Volk
Acht Jahre lang war der vom Iran gestützte Nuri al-Maliki an der Macht. In dieser Zeit gelang es ihm nicht, ein Minimum an öffentlichen Leistungen und Sicherheit zu gewährleisten. In der Folge kam es in verschiedenen Städten des Irak, unabhängig von ihrer schiitischen oder sunnitischen Prägung, zu politischen und sozialen Protesten, auf die die Regierung Al-Malikis mit übertriebener Gewaltanwendung und Einschüchterung ihrer Widersacher reagierte. Sie wurden strafrechtlich verfolgt. Die Regierung ging sogar soweit, Widersacher verschleppen oder töten zu lassen. Diese Maßnahmen erzeugten in der Folge ein Klima der Gewalt, das an die brutale Herrschaft der Baath-Partei erinnerte.
Am 25. Februar 2011 demonstrierten hunderttausende Menschen in Bagdad und anderen Städten im Irak. Sie protestierten gegen das Versagen auf politischer Ebene und den Griff Al-Malikis nach der Alleinherrschaft, prangerten aber auch die Unfähigkeit der Regierung an, für Sicherheit und funktionierende öffentliche Leistungen zu sorgen.
Die Demonstrationen, die in den schiitischen Regierungsbezirken ihren Ausgang genommen hatten, wurden gewaltsam niedergeschlagen. Und auch bei der Auflösung der wichtigsten Demonstration auf dem Tahrir-Platz in Bagdad gingen die Sicherheitskräfte unverhältnismäßig brutal vor. Aktivisten, die daran teilgenommen hatten, wurden verfolgt, verhaftet und mehrere Tage in geheimen Haftanstalten und an anderen inoffiziellen Orten festgehalten. Ein derartiges Vorgehen ist nichts anderes als Entführung und Folter mit dem Ziel sie einzuschüchtern.
Das bekannteste Opfer dieser spontanen sozialen Erhebung gegen die korrupten Behörden war der Journalist und Schauspieler Hadi al-Mahdi, der am 8. September 2011 in seiner Wohnung im Bagdader Stadtteil Karrada ermordet wurde. Währenddessen fehlt von Jalal al-Shahmani weiterhin jede Spur, nachdem der Demonstrationsteilnehmer am 23. September 2015 in Bagdad entführt wurde. Mittlerweile geht man aber davon aus, dass er von "unbekannten" Entführern bereits getötet worden ist.
Klima der Straflosigkeit
Staatliche Stellen sprechen in ihren offiziellen Erklärungen meistens von solchen Unbekannten, wenn sie über die Entführer oder Attentäter reden. Menschenrechts- und zivilgesellschaftliche Organisationen verurteilen die Taten zwar, aber auch sie vermeiden es in ihren Statements, die Täter zu benennen, obwohl sie bekannt sind. Schließlich stehen die Behörden mit ihnen in Kontakt, um die Freilassung der Entführten zu erreichen, oder wenigstens mehr über das Schicksal derjenigen zu erfahren, die getötet wurden.
Dadurch, dass sie die Namen der Täter nicht aufdecken, lassen Regierung und zivilgesellschaftliche Organisationen nicht nur bewusst alles im Dunkeln, sondern ermuntern auch die sich in den irakischen Städten wie ein Krebsgeschwür ausbreitenden bewaffneten Gruppen regelrecht dazu, ihr Terrorgeschäft zu professionalisieren. Hinzu kommt ein Klima der Straflosigkeit und eine Zivilgesellschaft, die angesichts der effektiven Dauereinschüchterungstaktik und der Untätigkeit der Behörden eingeknickt ist.
Sowohl die Entführung der Journalistin Afrah Shawqi (am 27. Dezember 2016 entführt und eine Woche später freigelassen) als auch die Entführung von sieben Aktivisten (am frühen Morgen des 8. Mai 2017 aus ihrer Wohnung in der Saadoun-Straße verschleppt und später auf einem entlegenen Acker nördlich von Bagdad ausgesetzt) und weitere ähnliche Fälle in südlichen Regierungsbezirken zeigten eine neue Herangehensweise der Täter.
Diese Fälle werfen nicht nur ein Schlaglicht auf die Hilflosigkeit der Behörden, sondern auch auf ihre Verstrickung, denn in beiden Fällen waren ihnen die Täter wohl bekannt. Aber weder versuchten sie, das Gesetz durchzusetzen oder die Täter anzuklagen und sie zu Terrormilizen zu erklären, noch ermutigten sie die Entführungsopfer dazu, ihrerseits Klage einzureichen, um sie vor Gericht zu bringen. Stattdessen schützten die Behörden die Täter vor strafrechtlicher Verfolgung.
Am Ende fügten sich die Opfer den Drohungen ihrer Entführer und der Empfehlung der Sicherheitskräfte, die Identität der Täter nicht preiszugeben, um Unruhe in der Öffentlichkeit hinsichtlich der Rolle der Milizen im Kampf gegen den Terror zu vermeiden und ihre eigene Sicherheit nicht zu gefährden. Und so "danken" Behörden und Entführte zum ersten Mal Entführern für "die Wohltat, ihre Opfer am Leben gelassen zu haben".
Milizen gegen die Gesellschaft
Die ungehemmte und anarchische Aufrüstung in den Straßen des Iraks stärkte vor allem einige bewaffnete Gruppierungen, die mittlerweile mächtiger als Staat und Behörden geworden sind. Ihr systematischer Terror steht dem des sogenannten "Islamischen Staates" in nichts nach, vielleicht führt er ihn sogar fort. Auf jeden Fall aber begünstigt er ihn dadurch, dass er den Staat schwächt.
Doch gerade um den dschihadistischen Terrorgruppen das Handwerk zu legen, ist es zwingend notwendig, im Kampf gegen den Terror auf illegale Waffen aus dem Ausland zu verzichten, nicht umgekehrt. Denn diese Waffen werden früher oder später gegen die Iraker selbst gerichtet sein, insbesondere gegen jene gesellschaftlichen Akteure, die einen zivilen Staat fordern und sich gegen das Machtkartell aus Parteien und Polizei engagieren.
Diese Waffen werden dazu missbraucht werden, die Menschen dem extremistischen Weltbild dieser Gruppierungen zu unterwerfen und eine eindimensionale und abgeschottete Gesellschaft zu errichten, in der die Menschen ihren extremistischen religiösen Auslegungen Glauben schenken - eine Gesellschaft auf Basis ethnischer, konfessioneller und geografischer Spaltung. Und letztlich werden diese Waffen auch dazu dienen, die zivilgesellschaftlichen und demokratischen Kräfte aus den Städten zu vertreiben, um den Traum vom Griff nach der Alleinherrschaft endlich wahr werden zu lassen.
Entführungen, Morde, Verfolgung und Hetze: all das ist Gewalt, ausgeübt durch Bewaffnete und deren Hintermänner. Hinzu kommen die Autoren und Journalisten auf ihren Gehaltslisten: Sie übernehmen die schäbige Aufgabe, die freien und aufbegehrenden Stimmen zu überwachen, zu verunglimpfen und die sozialen Netzwerke gegen sie aufzuwiegeln.
Diese sozialen Netzwerke sind inzwischen zum Dreh- und Angelpunkt der konfessionellen Spalter und "Online-Söldner" geworden, die gegen jede Stimme agitieren, die ihrer zerstörerischen Agenda zuwiderläuft, um sie zum Schweigen zu bringen. Die bewaffneten Gruppen wiederum fühlen sich durch diese Hetze geradezu legitimiert und berufen, Abweichler zu entführen, oder gar zu ermorden – Facebook ist heute tödlich geworden.
Eine Angst einflößende Macht
Die vergangenen Monate waren im Irak gekennzeichnet durch exzessive Hetzkampagnen gegen all jene, die ins Visier geraten waren und mundtot gemacht werden sollten. Und jedes Mal kommt nach einer solchen Kampagne ans Licht, dass es wieder eine Entführung gegeben hat: Es trifft Aktivisten, Schriftsteller, Journalisten und Künstler, aber auch ganz normale Menschen, die eine eigene Meinung haben.
Handelt es sich um bekannte Gesichter, besteht zumindestens Hoffnung, dass es glimpflich endet und sie letztlich freikommen. Unbekannte hingegen werden irgendwann tot auf der Müllhalde gefunden, wie im Falle des Schauspielers Karar Nushi, den eine dieser Hetzkampagnen das Leben kostete.
Mit dem gleichen Eifer stürzt sich der Mob auf junge Menschen wie Naba al-Jubouri, die mit kompromittierendem Material erpresst werden.
Ein Unbekannter, von dem vermutet wird, dass er eine Beziehung mit der Teenagerin hatte, postete Videos und Bilder im Internet, die sie in privaten und intimen Momenten zeigen. Als das Material sich verbreitete, reagierte die "Facebook-Maschinerie" indem sie sie verurteilte. Die geleakten Bilder und Videos wurden weiterverbreitet, um die "Tugendhaftigkeit" der jungen Frau in Zweifel zu ziehen. Naba al-Jubouri wurde kurze Zeit später ermordet, während der wahre Kriminelle dank des vorherrschenden patriarchalen Gesellschaftssystems ein freier Mann blieb.
Im Irak von heute gibt es keine Kraft, die mächtiger ist als die Milizen und keine Stimme, die lauter ist als die Stimme der konfessionellen Spalter. Eine Haltung zu vertreten, die den Ansichten der bewaffneten Gruppen zuwiderläuft, gilt in dem Land als nicht legitim. Mord und Entführung sind das unausweichliche Resultat des Zerfalls eines Staates, der sich bemüht, angesichts der politischen und sozialen Auflösungserscheinungen, der Interventionen aus dem Ausland und der Milizen und Fraktionen, die die Sicherheitspolitik diktieren, nicht auseinanderzubrechen.
Der Horror, den selbst die weniger von Konflikten heimgesuchten Städte im Irak aufgrund der von den Milizen verbreiteten illegalen Waffen erleben, stellt nicht nur ein ernsthaftes Problem für die Durchsetzung des Gesetzes und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit dar. Er verhindert auch den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und eine Verbesserung der derzeit miserablen Leistungen im öffentlichen Sektor.
Safaa Khalaf
© Qantara.de 2018
Safaa Khalaf ist ein Irakischer Publizist und Schriftsteller.
Übersetzt aus dem Arabischen von Thomas Heyne