Krieg um Wählerstimmen
Die alte Zeit begann für viele Türken an einem Freitagmorgen. Wer am 24. Juli das Radio anstellte oder das Frühstücksfernsehen einschaltete, fühlte sich zurückversetzt in die 1990er Jahre: landesweite Polizeirazzien, Kampfjets am Nachthimmel über Diyarbakır mit ihren hellblauen Triebwerkflammen, tote Soldaten, die als "Märtyrer" verehrt werden.
Es dauerte auch nur ein paar Tage, bis der Staatschef wenig verklausuliert die Verhaftung kurdischer Abgeordneter empfahl – genau wie damals, im Jahr 1994, als vier prominente Politiker der "Partei der Demokratie" (DEP) vor dem Parlament in Ankara von der Polizei abgeführt wurden. Die Türkei führt wieder Krieg gegen ihre Kurden.
Und doch scheint vieles anders als vor 25, 30 Jahren, als die türkische Armee in Eigenregie im Südosten des Landes gegen die "Kurdische Arbeiterpartei" (PKK) kämpfte und die Dörfer von Zivilisten abbrannte. Dieses Mal geht es um Politik und Wählerstimmen.
"Er wird alles in Bewegung setzen, um seine Macht zu retten", sagt Erol Özkoray über den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Der Bürgerrechtler, Publizist und frühere Politikberater Özkoray hatte schon kurz vor den Parlamentswahlen am 7. Juni gewarnt: Der Staatschef werde einen Krieg im eigenen Land und mit den Nachbarn lostreten, sollte es seinen Interessen dienen.
Wie von Gott eingesetzt
"Die Idee des politischen Wechsels existiert nicht für Erdoğan. Er fühlt sich wie von Gott eingesetzt", meint Özkoray heute. Seit Juli lebt er mit seiner Frau Nurten in Schweden im Exil. Beide hatten ein Buch über die Gezi-Proteste von 2013 geschrieben und darin auch Graffiti-Sprüche aufgelistet, die an Istanbuler Häusermauern prangten und die sich gegen Erdoğan richteten. Erol Özkoray wurde deshalb zu knapp einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt.
Aber auch weniger polemisch formulierende Kommentatoren in der Türkei sehen in dem neu entflammten Krieg gegen die PKK vor allem ein taktisches Kalkül der politischen Führung in Ankara.
Cengiz Çandar, Murat Yetkin, Semih Idiz, Hayko Bağdat, Murat Belge und andere Meinungsführer der gleichwohl kleinen, politisch liberalen Strömung des Landes machen alle eine einfache Rechnung auf: Die Wahlen vom 7. Juni und der Verlust der absoluten Mehrheit für Erdoğans konservativ-islamische Partei AKP nach fast 13 Jahren Alleinregierung sind der Grund für den Feldzug gegen die Kurden, so ihr Meinung. Eine Neuwahl noch im Herbst dieses Jahres oder 2016 soll die kurdisch dominierte, linksliberale HDP aus dem Parlament befördern und Erdoğan wieder die Mehrheit beschaffen.
Kadri Gürsel, ein anderer renommierter Kommentator, verlor seinen Job in der Tageszeitung "Milliyet", weil er an der Aufrichtigkeit der türkischen Militärkampagne gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" zweifelte, die parallel zur Offensive gegen die PKK in der Nacht zum 24. Juli begonnen hatte.
Die Kurden als Zielscheibe
Die Kurden gelten als das eigentliche Ziel des "Kriegs gegen den Terror", den der amtierende Regierungschef Ahmet Davutoğlu ausgerufen hat. Von 1.300 festgenommenen Personen in der Türkei in der ersten Woche nach Beginn der Militäroperationen zählten nur rund hundert zu den mutmaßlichen Unterstützern oder Mitgliedern des "Islamischen Staates" (IS).
Die übergroße Mehrheit der Festgenommenen wurde verdächtigt, der PKK oder deren Jugendorganisation "Bewegung der patriotisch-revolutionären Jugend" (YDG-H) anzugehören. Einem kleineren Teil wird vorgeworfen, die linksextreme Terrorgruppe DHKP-C zu unterstützen.
Von den NATO-Mitgliedsstaaten zunächst als große sicherheitspolitische Kehrtwende gefeiert, entpuppte sich der Kampf gegen den IS in Syrien nahe der türkischen Grenze als ein Nebenschauplatz für den offenbar sehr viel wichtigeren Feldzug gegen die kurdische Untergrundarmee mit ihrer Basis im Nordirak und die mehrheitlich kurdische Parlamentspartei in Ankara. Die türkische Außenpolitik sei für die Partner in Europa und den USA nur noch zweideutiger und schwerer verständlich geworden, urteilte der französische Politologe und Türkeibeobachter Jean Marcou.
Nationalistisch-martialische Rhetorik
Das innenpolitische Kalkül mit den Kurden stellt dabei nicht nur die AKP an. Auch die rechtsnationalistische Oppositionspartei MHP, die im Begriff ist, Bedingungen für eine zeitlich befristete Unterstützung einer Minderheitsregierung der AKP bis November oder bis zum Frühjahr 2016 zu formulieren.
"Was ich beängstigend finde, ist, dass praktisch auf einen Knopf gedrückt wird und das Klima in der politischen Landschaft umschlägt", sagt Cengiz Günay, ein Forscher am "Österreichischen Institut für Internationale Politik" (OIIP) in Wien. "Türkische Politiker versuchen nun, mit nationalistisch-martialischer Rhetorik Stimmen für sich herauszuschlagen. Das sind alte Reflexe, die gut einstudiert sind. Ich hoffe nur, dass die Wähler nicht darauf hereinfallen."
Noch zeigen Umfragen, dass die Türken sich von Krieg, Razzien und Furcht vor Anschlägen nicht beirren lassen. Auch eine Neuwahl würde derzeit dieselben Ergebnisse wie im vergangenen Juni erbringen: Der HDP gelingt ein weiteres Mal der Sprung über die Zehn-Prozenthürde, die AKP würde mit etwas über 40 Prozent der Stimmen erneut stärkste Partei werden, jedoch ohne Regierungsmehrheit.
Bis zu möglichen vorgezogenen Wahlen im November oder gar im kommenden Frühjahr ist in der politisch schnelllebigen Türkei jedoch vieles möglich. Vor allem die Position der HDP und ihres Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş scheint zunehmend prekär.
Demirtaş hatte im Wahlkampf Staatschef Erdoğan persönlich herausgefordert. Die HDP werde verhindern, dass Erdoğan im Parlament eine ausreichend große Mehrheit erhalte, die dann eine Präsidialverfassung schreibe, so hatte Demirtaş erklärt.
Erdoğans Vertrauter Yalcin Akdoğan, einer der amtierenden Vizeministerpräsidenten, bestätigte mittlerweile auch: Demirtaş' Angriff gegen Erdoğan sei eine Provokation gewesen, die zum Ende des Friedensprozesses mit den Kurden beigetragen hätte.
"Die HDP ist durch die militärische Eskalation in Bedrängnis", stellt Cengiz Günay fest. "Sie wird nun wieder in die Schablone der kurdischen Identität hineingepresst. Und wer sagt, dass die PKK nicht auch Demirtaş abserviert, wenn er sie zu deutlich kritisiert?"
Markus Bernath
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