Fragiler sozialer Friede

Entlang der ethnischen Bruchlinien in der Türkei tun sich neue Gräben auf. Die türkischen Behörden bewerten die jüngsten Zusammenstöße zwischen Türken und Kurden als Provokationen im Vorfeld einer Volksabstimmung, doch Experten gehen von anderen Ursachen aus. Ayşe Karabat berichtet.

Zerstörtes Café in Dörtyol, Türkei; Foto: Ayse Karabat
Provokation oder ethnischer Zusammenstoß? Nach einem tödlichen Angriff der PKK auf Polizisten in Dörtyol zerstörte ein aufgebrachter Mob Geschäfte und Cafés, die von Kurden betrieben werden.

​​ "An dieser Stelle fiel der erste Schuss, und wenn es nötig sein sollte, wird hier auch der letzte Schuss fallen", sagt der wütende Mann. Er gehörte zu dem Mob in Dörtyol, Hatay, einer Stadt im Süden der Türkei, dem Schauplatz der ethnischen Unruhen Ende Juli.

In Dörtyol leben annähernd 70.000 Menschen; die Stadt liegt inmitten eines sehr fruchtbaren Gebiets, doch muss man mindestens eine Stunde fahren, um das nächstgelegene Kino zu erreichen. Die Einwohner sind stolz darauf, dort zu leben, wo 1918 der erste Schuss im Türkischen Unabhängigkeitsskrieg gegen die französische Besatzungsmacht abgefeuert wurde.

Mit dem "letzten Schuss" jedoch ist einer gemeint, der zuletzt auf Kurden abgefeuert wurde, die anfangs in geringerer Zahl als Saisonarbeiter kamen, seit den 1990er Jahren aber, nach der zwangsweisen Räumung von mehr als 4000 Ortschaften im östlichen und südöstlichen Anatolien, die Stadt geradezu überschwemmten.

Die wütende Menge in Dörtyol behauptet, dass einige der Kurden in der Stadt mit der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) zusammenarbeiten und sich so durch "schmutziges Geld" Geschäfte und Häuser in der Stadt kaufen konnten. Einige in der Menge werfen den Kurden auch noch Geldwäsche für die PKK vor.

Aufgebrachte Menge agiert gegen Kurden

Ausgelöst wurden die jüngsten Ereignisse, die die ganze Stadt entlang der ethnischen Linien entzwei riss, durch die Tötung von vier Polizisten bei einem angeblich von der PKK durchgeführten Angriff aus dem Hinterhalt am 26. Juli. Nach der Terrorattacke aber veränderte sich die Geschichte; schnell machten sich Gerüchte breit, dass die Polizeistation unter Beschuss stehe.

Zeugen sagten, dass viele Menschen daraufhin zur Polizeistation eilten. Daraus wiederum entstand ein weiteres Gerücht, wonach die Angreifer gefasst und in polizeilichem Gewahrsam seien.

Türkische Demonstranten in den Straßen von Dörtyol; Foto: Ayse Karabat
Die wütende Menge in Dörtyol behauptete, dass einige der Kurden in der Stadt mit der PKK zusammenarbeiten und sich so durch "schmutziges Geld" Geschäfte und Häuser in der Stadt kaufen konnten.

​​ Die Polizei forderte die Menge auf, sich zu zerstreuen, was zwar auch geschah, jedoch nur, weil der Mob sich auf den Weg zur örtlichen Zentrale der pro-kurdischen "Partei für Frieden und Demokratie" (BDP) machte und diese niederbrannte.

Am nächsten Tag gegen Mittag versammelte sich eine Gruppe von Kurden an der kleinen Busstation in der Stadt, offenbar ohne genau zu wissen, was sie tun sollten, wie Zeugen berichteten. Andere Einwohner aber hörten von der Ansammlung und eilten zum Ort des Geschehens. Die Gruppe der Kurden löste sich auf; doch von der aufgebrachten Menge wurden einige Geschäfte angegriffen, von denen bekannt war, dass sie Kurden gehörten.

Dörtyol war nicht die einzige Stadt in der Türkei, in der ethnische Konflikte gewaltsam aufbrachen. Fast zur gleichen Zeit eskalierte auch in İnegöl, Bursa, im Westen des Landes die Gewalt, ausgelöst durch einen Streit in einem Café.

Hunderte von Menschen warfen Steine auf das städtische Rathaus und verlangten, dass die Polizei die Kurden ausliefern sollte, die den Kaffeehausstreit angeblich begonnen hatten. Der Mob setzte Polizeiautos in Brand, schlug die Fensterscheiben einer Bank ein und warf Steine auf Rettungswagen. Die Vorfälle führten außerdem zur Sperrung der Autobahn zwischen Bursa und Ankara.

Provokationen im Vorfeld eines Referendums

Laut türkischen Regierungsbeamten, darunter auch Premierminister Recep Tayyip Erdoğan, waren all diese Vorfälle gezielte Provokationen im Vorfeld eines Referendums, das am 12. September stattfinden wird und in dem über die von der Regierung vorgeschlagenen Verfassungsänderungen abgestimmt werden soll.

Türkischer Premierminister Erdogan bei einer Rede; Foto: AP
Die türkische Regierung bewertet die Ereignisse als gezielte Provokation im Vorfeld des Referendums zur Verfassungsänderung am 12. September: "Manche Kreise versuchen, die Menschen im Vorfeld einer Entscheidung zu provozieren, die für die Zukunft, die Demokratie und die Freiheit in der Türkei sehr wichtig ist", sagte Premier Erdogan.

​​ Unter Bezugnahme auf die Ereignisse in Dörtyol sagte Erdoğan in einer öffentlichen Ansprache: "Manche Kreise versuchen, die Menschen im Vorfeld einer Entscheidung zu provozieren, die für die Zukunft, die Demokratie und die Freiheit in der Türkei sehr wichtig ist. Dies ist ein schmutziges Spiel und eine gemeine Falle. Wir lassen uns dadurch aber nicht täuschen."

Innenminister Beşir Atalay gab bekannt, dass Spezialeinheiten nach Dörtyol geschickt worden seien, um die Vorgänge zu untersuchen, und sagte, dass die Dinge nicht so einfach lägen, wie es scheint – eine Anspielung auf eine mögliche Provokation, die hinter den Ereignissen vermutet wird.

"Es gibt einige Akteure, die die Vorfälle in Dörtyol geplant haben; es waren gezielte Provokationen. Sie wollen nicht, dass das Referendum unter geordneten Umständen abgehalten wird. Dies ist zwar kaum zu verstehen, aber wir sind entschlossen, die Vorfälle gründlich zu untersuchen", sagte Atalay.

Kluft zwischen Ethnien

Die ethnisch geprägten Zusammenstöße in Dörtyol und İnegöl waren die ersten ihrer Art in diesen Städten. Die Türkische Menschenrechtsstiftung (TİHV) führt seit 2002 detailliert Buch über versuchte Lynchaktionen gegen Kurden. Ihren Angaben zufolge wurden in einigen Fällen sogar Menschen auf der Straße angegriffen, nur weil sie Kurdisch sprachen.

Der ehemalige Vorsitzende der Rechtsanwaltskammer von Diyarbakır, Sezgin Tanrıkulu, gehört zu den Experten, die seit langem vor einer Vertiefung der ethnischen Spaltung in der Türkei warnen:

"Was wir in İnegöl und Dörtyol beobachten mussten, sollte uns nicht überraschen. Der Boden dafür wurde schon seit langem vorbereitet. In beiden Ethnien gibt es eine neue Generation, die im Gegensatz zu früheren Generationen nicht in der Lage ist, sich mit der anderen Ethnie zu verständigen", sagt er.

Verstärkung der Gewalt

Der Politikwissenschaftler Tanıl Bora gehörte zu den ersten Experten, der auf die Lynchangriffe gegen Kurden aufmerksam machte. In seinem Buch "Türkiye'nin Linç Rejimi" (Das türkische Lynch-Regime) sammelte er die Artikel, die er zu diesem Phänomen geschrieben hat. Er unterstreicht darin, dass die Sicherheitskräfte bei früheren Lynchversuchen, auf die Mobs mit "Toleranz" reagierten:

Kurdische Kinder in Dörtyol; Foto: Ayse Karabat
"In beiden Ethnien gibt es eine neue Generation, die im Gegensatz zu früheren Generationen nicht in der Lage ist, sich mit der anderen Ethnie zu verständigen", erklärt der Jurist Sezgin Tanrıkulu aus Diyarbakır.

​​ "Wenn es eine verstärkte 'Bedrohungswahrnehmung' gibt, weitet der Staat seine Gewaltanwendung aus. Hinzukommt dann eine Weiterführung der Gewalt seitens der Öffentlichkeit, so dass sich letztendlich beide gegenseitig verstärken", erklärt Bora.

Bora betont, dass, wenn die Rädelsführer dieser Angriffe nicht bestraft würden und der Staat weiterhin mit "Verständnis" darauf reagiere, weitere Attacken unausweichlich seien. Wenn es also keine klare Linie gibt, die auch entsprechend umgesetzt wird, könne die Lage jederzeit außer Kontrolle geraten, warnt er.

Sorge und Angst bei der Bevölkerung

"Lass geschehen, was geschieht", wurde in Dörtyol im Laufe der Unruhen zu einem geflügelten Wort, und das auf Seiten der Türken wie auf Seiten der Kurden. Im Rest der Türkei aber blickt man mit Sorge, Angst und vielen Fragen zur Zukunft des gesamten Landes auf den ethnischen Konflikt, der sich hier auftut.

Schließlich ist es nicht leicht, einfach geschehen zu lassen, was eben geschieht. Durch die Stadt führt heute eine unsichtbare Grenze zwischen dem nördlichen kurdischen Teil und der Innenstadt. Ein Kurde aber sagt dazu, dass die beiden ethnischen Gruppen miteinander Geschäfte machen und, das sei noch wichtiger, dass es viele gemischte Ehen zwischen Türken und Kurden gibt:

"Eines Tages sind wir vielleicht gezwungen, die Stadt zu verlassen, aber meine Kinder wurden hier geboren, meine Schwestern sind mit Türken verheiratet. Wo sollen wir denn higehen?"

Ayşe Karabat

© Qantara.de 2010

Übersetzung aus dem Englischen: Daniel Kiecol

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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