Der süße Vogel Freiheit
Nur vordergründig beschränkt sich Fariba Vafi auf die Alltagsprobleme ihrer Heldin, die immer gleichen Mühen der Mutter zweier Kinder und das Gezänk der Eheleute. Von Anfang an schwingt im scheinbar naiv Erzählten ein Subtext mit, der den dargestellten Mikrokosmos unterläuft und ihn zum Schillern bringt.
Eine junge (im Text namenlose) Iranerin erzählt von ihrem neuen Wohnviertel (in einer ebenso namenlosen iranischen Großstadt), wohin sie mit ihren Kindern und ihrem Mann gezogen ist. Alles ist neu und fremd für sie:
"Das hier ist die Volksrepublik China", heißt es im ersten Satz. Doch in Wirklichkeit ist die Frau nie dort gewesen. Es ist nur ein China, wie sie es sich vorstellt: laut, unübersichtlich und "voller Menschen".
Doch der Vergleich mit China (und zwei Seiten später mit Indien) ist alles andere als zufällig gewählt. So exotisch weit entfernt diese Länder für sie sind, so fremd und zugleich fremdbestimmt fühlt sie sich selbst in ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau. In ihr ist eine große unstillbare Sehnsucht, die sogar ihre Ehe zum Scheitern bringt, die Sehnsucht nach Freiheit.
Der Schein trügt
Durch die stille, zurückhaltende Erzählweise wirken die Konflikte in dieser Familie zunächst wie durch ein Verkleinerungsglas gesehen. Ereignisse, wie der Tod des Vaters und die Einsamkeit der Mutter werden beiläufig eingestreut. Die regelmäßigen Besuche der Schwestern und das Zusammensitzen erwecken den Eindruck einer heilen Welt.
Doch der Schein trügt, in Wahrheit ist es eine Welt voller Gewalt und Grausamkeit, aus der die Erzählerin stammt. Sie ist aufgewachsen "mit tausend Ängsten", der dauernden Furcht vor Misshandlung durch ihren Onkel und den häufigen Strafen, die sie eingeschlossen in einem dunklen Keller als Kind absitzen musste.
Auch der Tod des Vaters vollzog sich für sie unter traumatischen Umständen: der alte demenzkranke Mann wurde zuvor samt Bett in den Keller verbracht, von wo die Tochter ihn oft stundenlang jammern und weinen hörte, ohne dass jemand sich seiner annahm.
Die junge Frau will sich als selbständiges Individuum fühlen, sie will nicht länger unter Ängsten und Zwängen leiden und sich in ihrer Hilflosigkeit an ihre Familie und ihren Mann klammern. Doch dieses Ziel scheint unerreichbar.
Ein Zugvogel im Käfig
Das Vorhaben scheitert schon daran, dass sie sich mit ihrem Mann Amir nicht über ihre gemeinsame Zukunft einig wird. Amir ist besessen von der Idee, nach Kanada auszuwandern. Im Iran scheint ihm eine Zukunft unvorstellbar. "Wenn wir hierbleiben, wird sich nichts ändern", urteilt er unmissverständlich. Zu seiner Frau sagt er: "Wenn du hierbleibst, wirst du versauern. Ihr habt hier keine Zukunft, weder du noch die Kinder."
So klar Amirs Einschätzungen auch klingen, so wenig kann er dafür tun, um seine Pläne umzusetzen. Seine Emigrationswünsche bleiben ein dauernder Traum. Amir erscheint wie "ein Zugvogel, der im Käfig leben muss". Hin und wieder bricht er mit einem Rucksack zu einer Reise auf, lässt Frau und Kinder im Stich. Doch nach einer Weile kehrt er wieder zurück, und weiter als bis nach Baku ist er selten gekommen.
Der Roman spiegelt mit einfachen Mitteln und eindrücklichen, originellen Metaphern eine Lebenswirklichkeit, wie sie im heutigen Iran als tägliche Realität erfahren wird.
In einem essayartigen Nachwort, das der deutsch-iranische Schriftsteller SAID verfasst hat, wird der Wunsch nach Emigration als allgemein verbreitete "Chimäre" im heutigen Iran bezeichnet. SAID schreibt, dass "fünf Millionen Iraner das Land seit der Islamischen Revolution verlassen (haben) – legal oder illegal … getrieben vom Hunger nach einem besseren Land, nach einem besseren Leben."
Doch viele müssen bleiben und sich mit den Verhältnissen arrangieren – wie übrigens die Autorin selbst, die bis heute mit ihrer Familie in Teheran lebt. "Kellervogel" ist ihr erster Roman, der 2002 im Iran erschien und für den sie gleich mehrere internationale Auszeichnungen erhielt.
Befreiungskampf
In der Hauptfigur des Romans schildert sie einen Befreiungskampf, den eine junge Frau privat und doch stellvertretend für viele Menschen ausfechten muss. Nicht weggehen zu können und sich mit den von Männern dominierten Regeln der Gesellschaft konfrontiert zu sehen, ist eine Tatsache, mit der die Heldin täglich neu umgehen muss.
Der im Titel genannte "Kellervogel" aber ist wie ein Leitstern über ihrem Leben: Sie muss lernen die Angst zu verlieren vor den "Schatten und Geistern", die um sie sind, und sich die Freiheit nehmen, hinauszugehen und sich die Welt anzueignen, wie es die junge Frau im Roman im letzten Kapitel tatsächlich tut.
Sie lässt den fassungslosen Mann zurück, den sie längst nicht mehr liebt, winkt den Kindern zu, die am Fenster stehen und ihr nachschauen. "Habe ich auch einen Vogel?" fragt sie sich währenddessen. "Kann es überhaupt sein, dass jemand keinen besitzt?"
Der Roman hat durchgängig einen ironischen Tonfall, in dem alles möglich erscheint und doch nichts beliebig wirkt. Die gewählten Bilder besitzen hohe Anschaulichkeit, die Umrisse des Lebens, in dem die junge Frau anfangs wie in einer Falle sitzt, erscheinen klar und präzise: ein Leben zwischen Küche und Keller, Kindern und Ehemann, ständig von den Gefühlen der Überforderung bedroht.
Doch die Frau versteht es, sich nach und nach kleine Freiheiten zu erkämpfen. Sogar Orte, die ihr bisher einen Schauder einflößten, verlieren ihren Schrecken. "Ich mag den Keller", sagt sie am Ende des Romans. "Ich gehe gelegentlich dorthin zurück … Seit einiger Zeit ist mir klar, dass ich stets einen Keller in mir herumtrage."
So einfach und doch genau lässt sich ausdrücken, was bei einer sich verändernden Persönlichkeit geschieht, die den Kampf um Emanzipation nicht aufgibt, auch wenn er zunächst aussichtslos erscheint.
Volker Kaminski
Fariba Vafi: "Kellervogel", mit einem Nachwort von SAID, aus dem Persischen übersetzt von Parwin Abkai, Rotbuch Verlag, September 2012, 160 Seiten
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de