Gewaltspirale ohne Ausweg
Es war das achte Mal, dass zehntausende Palästinenser in Gaza unter dem Motto "Marsch der Rückkehr" gegen die von israelischen Scharfschützen gesicherten Grenzbarrieren anrannten. Bis dato hatten Demonstranten diesen verzweifelten Versuch eines Durchbruchs jedes Mal mit Menschenleben bezahlt. Aber dieser 14. Mai am Vortag des Gedenktags an „Al-Nakba“, die palästinensische Katastrophe von Flucht und Vertreibung, endete in einer Tragödie, die als "blutiger Montag" mit über 60 Toten und mehr als 1.500 Schussverletzten in die Annalen einging. Eine horrende Bilanz, die kritische Fragen aufwirft. An Israel und die in Gaza herrschende Hamas.
Die Proteste waren zwar ursprünglich eine Initiative der palästinensischen Zivilgesellschaft. Die Idee zu gewaltlosen Demonstrationen an Gazas Grenzzaun hatte ein 25-jähriger Palästinenser aus dem Flüchtlingslager in Rafah. In der Bevölkerung fand sie alsbald Anklang, entsprechend groß war die Zustimmung in nahezu allen Fraktionen.
Aber es war die Hamas-Führung, die schließlich die Organisation an sich riss, die Sammelpunkte, sogenannte Rückkehrlager, schuf und Direktiven erließ. An besagtem Montag hatte sie für ganz Gaza einen schulfreien Tag erlassen, um eine möglichst breite Teilnahme sicherzustellen. Man wollte der Feierstimmung in Israel über die Eröffnung der US-Botschaft in Jerusalem die geballte Wut der Palästinenser über diese Provokation entgegensetzen.
Zynische Form der Mobilisierung
Nicht, dass die Gaza-Jugend gezwungenermaßen dem Aufruf zu massenhaften Protesten folgte. Sie ist eine No-Future-Generation, eingesperrt in dem abgeriegelten Gazastreifen, oft auch als das größte Freiluftgefängnis bezeichnet. Entsprechend groß ist ihr Drang, auszubrechen. Aber sie zu ermutigen, mit Steinschleudern und selbstgebastelten Molotow-Cocktails in der Hand eine Grenze zu erstürmen, an der reihenweise Scharfschützen hinter aufgeschütteten Sandwällen lauern, ist schon ein zynisches Unterfangen.
Selbst in Gaza, wo sonst allenfalls hinter vorgehaltener Hand die Hamas kritisiert wird, gab es empörte Reaktionen. Ein couragierter palästinensischer Journalist stellte dort den zu ihrer Führungsriege zählenden Salah Bardawil zur Rede. Ob nicht die Hamas eigene Ziele auf dem Rücken der Bevölkerung verfolge? Worauf Bardawil erwiderte, von den 60 Todesopfern seien immerhin 50 Hamas-Aktivisten gewesen.
Prompt trumpfte Israels Premier Benjamin Netanjahu auf, damit sei erwiesen, dass es sich bei den Getöteten um Mitglieder einer Terrororganisation handele. Auch hätten einige Messer mitgeführt, "um Juden abzuschlachten", so Netanjahu. "Dagegen verteidigen wir unsere Familien."
Allerdings spricht wenig dafür, dass bei den Protesten per se reale Lebensgefahr für die israelischen Soldaten bestand. Von der Armee dokumentiert ist zwar ein Fall, in dem palästinensische Bewaffnete am Montag auf eine Grenzposition feuerten. Doch viele Demonstranten sollen laut Augenzeugen aus Gaza fernab der Grenzbarrieren von scharfen Kugeln getroffen worden sein. Ein israelischer Militärsprecher parierte mit dem Gegenargument, die Hamas habe möglichst viele Opfer geradezu gewollt.
Forderung nach unabhängiger Untersuchung
Klären könnte die gegenseitige Schuldzuweisung, wenn überhaupt, nur eine von internationaler Seite geforderte unabhängige Untersuchung. Israels hat sie abgelehnt. Diplomatischen Druck bekam es auch so zu spüren. Empört über den massiven Einsatz von Scharfschützen haben Südafrika und die Türkei ihre Botschafter aus Tel Aviv zurückbeordert. Von Recep Tayyip Erdoğan als "größtem Unterstützer der Hamas" brauche man keine Moralpredigten, entgegnete daraufhin Premier Netanjahu. Aber auch die EU richtete mahnende Worte an die Regierung in Jerusalem, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu wahren.
Der Rückgriff auf scharfe Munition, um einen Massenansturm abzuwehren, hat ebenso in Israel heiße Debatten ausgelöst. Der Befehl, nur auf die Füße oder Beine zu zielen, nehme in einem solchen Fall fast unweigerlich Tote in Kauf. Die Verantwortung dafür trage nicht zuletzt die Politik, die "nahezu nichts getan hat", so der "Haaretz"-Journalist Amos Harel, die vorhergesagte Eskalation zu verhindern. Warnungen gab es schließlich seit Langem, dass das "Pulverfass Gaza", heimgesucht von Arbeits- und Perspektivlosigkeit, irgendwann explodieren werde.
Zwar ließ die Hamas nach dem "schwarzen Montag" das halbe Dutzend Protestlager, errichtet in einigen hundert Meter Abstand zum israelischen Grenzverlauf, abbauen. Gedrängt dazu hatte vor allem Ägypten, das bereits beim letztlich gescheiterten Versöhnungsabkommen zwischen den Islamisten in Gaza und der rivalisierenden Fatah im Westjordanland eine Schlüsselrolle einnahm. Diese Rolle spielt die Führung in Kairo, die mit Israel in Sicherheitsangelegenheiten enge Kontakte unterhält, nun wieder bei dem Versuch, die Lage unter Kontrolle zu bringen.
[embed:render:embedded:node:31232]Druck aus dem Dampfkessel
So hat Ägypten den weitgehend geschlossenen Grenzübergang von Gaza nach Ägypten diese Woche frei gemacht und monatlich eine zehntägige Öffnung in Aussicht gestellt. Auch Israel ließ wieder in beträchtlicher Zahl Güter nach Gaza über den bei den Unruhen demolierten Grenzpunkt Kerem Schalom passieren.
Das nimmt Druck aus dem Dampfkessel, reicht aber allein nicht aus, um Gaza eine nachhaltige Zukunftsperspektive zu erlauben. Doch die Skepsis ist groß, ob der Anreiz ökonomischer Erleichterungen die Hamas dazu veranlassen wird, ihren militärischen Flügel sukzessive zu entwaffnen.
Israel ist ohnehin davon überzeugt, dass der Hamas nur mit militärischer Stärke beizukommen ist. Via Ägypten richtete es der Hamas-Führung aus, ihre hochrangigen Mitglieder würden auf die Abschussliste gesetzt, wenn sie sich nicht um Deeskalation bemühten.
Im Vergleich zum Montag flauten die Proteste in Gazas Grenzgebiet mittlerweile denn auch wieder ab. Doch gerade im Fastenmonat Ramadan könnten sie sich erneut aufheizen. Die Organisatoren jedenfalls kündigten an, weiterzumachen, zumindest bis zum sogenannten "Naksa-Tag" am 5. Juni, der an den Sechstagekrieg von 1967 und den Beginn der Besetzung palästinensischer Gebiete erinnert.
Inge Günther
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