"Das Schreiben ist eine Reise mit der Sprache"
Wann haben Sie mit dem Schreiben begonnen?
Habib Selmi: Anfangs habe ich nur kurze Texte geschrieben. Ich schickte sie an das tunesische Radio, das damals eine bekannte Literatursendung mit dem Titel "Literarische Amateure" ausstrahlte. Die Sendung wurde von einem sehr berühmten und angesehenen Dichter namens Ahmad Al-Lughmani geleitet, der schon einige literarische Talente Tunesiens entdeckt hatte. Seine Sendung gehörte zu den wichtigsten im tunesischen Radio überhaupt. Al-Lughmani lud mich mehrfach in die Sendung ein, um im Anschluss an die Ausstrahlung meiner Geschichten darüber zu diskutieren.
Am Ende eines Monats wurden den besten vorgestellten Geschichten und Gedichten Preise verliehen. Eine dieser Geschichten wiederum wurde in der Radiozeitschrift veröffentlicht. Ich erinnere mich daran, den Preis einige Male gewonnen zu haben, und drei meiner Geschichten wurden in der Radiozeitschrift abgedruckt.
Sie begannen also mit Kurzgeschichten und wandten sich erst später dem Roman zu?
Selmi: Meine Hinwendung zum Roman war eine natürliche Entwicklung. Ich habe es nicht geplant oder mich selbst dazu gezwungen. Ich hatte bereits in jungen Jahren mit dem Schreiben begonnen, zu einer Zeit, als die meisten tunesischen Prosaautoren Kurzgeschichten schrieben. Nur wenige der Romanautoren hatten mehr als zwei Romane veröffentlicht. Es war daher fast selbstverständlich, dass auch ich zuerst Kurzgeschichten schrieb, vor allem, weil ich diese in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichen oder einer Kultursendung im Radio schicken konnte.
Ich glaube, es wäre schwer, in der arabischen Welt einen Autor zu finden, der nicht irgendwann Kurzgeschichten geschrieben hat. Die Kurzgeschichte ist eine ganz eigene literarische Form und Kunst, und zu ihren Schöpfern gehören berühmte Autoren. Im Gegensatz zu dem, was manche glauben mögen, ist es eine sehr schwierige Kunst, und nur eine Handvoll Schriftsteller wurde mit ihr wirklich erfolgreich — Anton Tschechow, Yusuf Idris und Raymond Carver gehören zu ihnen.
Als ich meinen ersten Roman "Der Ziegenberg" (Jabal Al-Anz, 1988) schrieb, merkte ich, wie sehr mich die Kunst des Romans anzog und diese Faszination hat niemals nachgelassen.
In Ihrem Roman, "Bajjas Liebhaber“, treffen sich alle vier Protagonisten an einem einzigen Ort.
Selmi: Sie treffen sich deshalb alle an einem einzigen Ort, weil ich im Allgemeinen Romane mit nur wenigen Schauplätzen und Ereignissen bevorzuge. Ich glaube, dass ein Roman keine Erzählung und auch kein Epos sein sollte, also mit vielen Ereignissen und Schauplätzen. Der Roman ist kein Sack voller Begebenheiten und Schicksalswendungen.
In "Bajjas Liebhaber“ ist der Schauplatz ein alter Olivenbaum, unter dem vier alte Männer jeden Tag sitzen und auf den Tod warten. Im Zentrum aber steht die Witwe Bajja, die von einigen der alten Männer geliebt und begehrt wird. Die Umstände aber wollen es, dass sie einen Emigranten heiratet, der sie mit zu sich nach Deutschland nimmt und dort sehr schlecht behandelt, was die alten Männer wütend macht.
Ich habe "Bajjas Liebhaber“ zwischen 1998 und 2000 geschrieben, also drei Jahre lang. Ich schickte es dem Verlag Dar Al-Adab, der sehr schnell einer Veröffentlichung zustimmte. Natürlich hat es mich gefreut, wie positiv der Roman aufgenommen wurde und auch, dass er ins Französische übersetzt wurde und bei Actes du Sud erschien. Jeder, der die Übersetzung gelesen hat, ist voller Bewunderung für die Leistung des Übersetzers, des bekannten Arabisten Yves Gonzales Quijano, dem es gelang, die besondere Atmosphäre und die feinen Nuancen des Buches zu übertragen.
Was hat Sie an der Welt dieser Alten so fasziniert?
Selmi: Ich habe von diesem Roman geträumt seit ich begann zu schreiben. Die Idee dazu verfolgt mich seit meinen ersten Schreibversuchen. Die Geschichte fand mich eher als dass ich sie gefunden hätte. Der Grund dafür ist eigentlich ganz einfach: Die Welt der Alten war schon in meiner Kindheit ein Teil von mir. Ich lebte in einer echten Großfamilie und wuchs inmitten von Onkeln und Tanten auf, von Großvätern und Großmüttern. Ich sah sie jeden Tag und sie mich, weil die Häuser in unserer Nachbarschaft sehr nah beieinander standen und für jeden immer offen waren.
Auf dem Lande gibt es in Tunesien keine Cafés. Es gibt höchstens Läden, in denen die jungen Männer Karten spielen. Die alten Männer aber treffen sich jeden Tag an immer dem gleichen Ort auf einem Feld — genau wie die Männer in "Bajjas Liebhaber“. Und nicht selten ist dieser Ort eben ein alter Olivenbaum oder etwas in der Art.
Ich erinnere mich, dass mein Vater gern mit den alten Männern zusammen saß und mich nach Hause schickte, um Wasser für die Waschung vor dem Abendgebet zu holen. So kam ich oft mit den alten Männern zusammen, konnte ein wenig Zeit mit ihnen verbringen und ihren außerordentlichen Geschichten lauschen, die sie immer erzählten.
Was halten Sie von den Übersetzungen Ihrer Werke ins Französische und Englische? Zurzeit ist ein leichter Anstieg von Übersetzungen arabischer Romane in die Weltsprachen zu erkennen.
Selmi: Diese Übersetzungen sind sehr wichtig für mich, erlauben Sie mir doch den Kontakt mit Lesern anderer Kulturen, die oft auch eine andere Art zu lesen haben als wir. Ich hoffe sehr, dass meine Bücher, genauso wie die Übersetzungen anderer arabischer Werke, zu einem positiven Image der arabischen Literatur in der Welt beitragen können.
Es ist richtig, dass es zurzeit im Westen eine ganze Reihe von Übersetzungen aus dem Arabischen gibt und das ist eine gute Sache. Es zeigt, dass die arabische Literatur, die in den meisten westlichen Ländern jahrzehntelang völlig unbekannt war, nun die Aufmerksamkeit von Verlagen und Lesern auf sich zieht. Ich hoffe, dass sich dieser Trend fortsetzt, so dass unseren Romanen der Stellenwert zukommen wird, der ihnen eigentlich gebührt. Europäische Leser sollten sich noch viel mehr für die arabische Literatur interessieren, und dies sollte auch nicht nur auf bestimmte kulturelle Kreise beschränkt bleiben.
Sie leben in Paris, aber Sie haben noch nicht versucht, auf Französisch zu schreiben. Was denken Sie über einen arabischen Schriftsteller, der eine andere Sprache benutzt?
Selmi: Ich glaube, dass einige arabische Migranten deshalb auf Französisch schreiben, weil sie es besser beherrschen als Arabisch. Die meisten von ihnen sind entweder Kinder von Immigranten und sind schon in Frankreich geboren, oder es sind Algerier und Marokkaner, die in ihrem eigenen Land Arabisch nicht richtig gelernt haben.
Der Grund, warum ich nicht auf Französisch schreibe ist der, dass ich Arabisch liebe. Es ist die Sprache, in der ich die Welt entdeckte, in der ich träume, die Sprache, aus der meine Körperzellen bestehen, die Sprache, die mir im Blut ist. Das Französische liebe ich wie ich alle Sprachen der Welt liebe, egal ob es "große" oder "kleine" Sprachen sind. Den Platz des Arabischen aber wird sie niemals einnehmen können.
Ich beherrsche Französisch ganz gut, es ist die Sprache, die ich im Alltag verwende. Und doch bleibt es für mich beim Schreiben eine Fremdsprache, weil das Schreiben keinen neutralen und "kalten" Gebrauch der Sprache erlaubt. Das Schreiben ist eine Reise mit der Sprache; man reist mit ihr zu seinen innersten und entferntesten Gefühlen, Eindrücken, Visionen, Gedanken, Vorahnungen und Träumen.
Es gibt zurzeit eine Welle neuer arabischer Romane. Was halten Sie davon?
Selmi: Der Aufschwung des Romans in der arabischen Literatur ist sicher eine gute Sache. Es zeigt, dass sich dass arabische Bewusstsein geändert hat, weil die Welt im Roman auf andere Art nachgeformt wird wie in der Lyrik. Der arabische Roman hat sich in meinen Augen nicht zufällig so entwickelt, sondern als Resultat einer allgemeinen Mentalitätsänderung, einer größeren Nähe zur Realität und auch einer veränderten Wahrnehmung derselben.
Es wäre jedoch falsch, vom arabischen Roman als etwas einheitlichem, absolut homogenem zu sprechen, denke ich. Das würde nur zu Urteilen führen, die so allgemein sein müssten, dass sie vollkommen wertlos wären. Es gibt bedeutende arabische Romane, und der beste Beleg dafür ist das große Interesse, auf das sie im Westen stoßen.
Was ich am arabischen Roman kritisiere, ist seine viel zu starke Fixierung auf soziale Aspekte. Für mich sollte ein Roman vor allem das Selbst und sein Verhältnis zu seiner Umwelt widerspiegeln.
Interview: Samuel Shimon
© Banipal 2006
Aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Die vollständige Version dieses Interviews wurde in Banipal veröffentlicht, einer englischsprachigen Zeitschrift für arabische Gegenwartsliteratur.
Habib Selmi, "Bajjas Liebhaber", aus dem arabischen von Regina Karachouli, 219 Seiten, Lenos Verlag, Basel 2006
Qantara.de
Donata Kinzelbach:
"Maghrebiner sind immer im Exil"
Einleitend möchte ich Ihnen zwei Fragen stellen, die eigentlich zusammengehören. Zum einen natürlich, wieso Sie gerade Literatur aus dem Maghreb verlegen, zum anderen, worin Sie die spezifischen Eigenschaften dieser Literatur, auch im Vergleich zur europäischen bzw. zur deutschen Literatur sehen?
Dossier: Deutsch-arabischer Literaturaustausch
Die Literatur ist immer ein zentrales Medium des Kulturdialogs. Dabei sind es oft Aktivitäten, die im Kleinen, ja Verborgenen stattfinden: Übersetzer und Verleger, die sich am Rande des Existenzminimums um die geliebte fremde Kultur verdient machen. Wir präsentieren deutsche und arabische Initiativen.
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Lenos Verlag