Gemeinsam gegen religiöse Frontenbildung
Nach den jüngsten Bombenattentaten London gibt es auch in Deutschland Sorgen über eine mögliche Radikalisierung muslimischer Einwanderer in zweiter oder dritter Generation. Untersuchungen untermauern, dass manche junge Muslime durchaus empfänglich sind für extremistische Ideen. Wie erklären Sie sich das?
Cem Özdemir: In Deutschland leben ungefähr 3,5 Millionen Muslime und nur wenige von ihnen sind tatsächlich offen für solch extremistisches Gedankengut. Das sind Menschen, deren Einstellungen nicht mit der deutschen Verfassung vereinbar sind, Menschen, die alles andere als modern sind in ihren Ansichten, sei es, dass es um das Verhältnis zwischen Mann und Frau geht, die Einstellung gegenüber anderen Religionen oder gegenüber Andersdenkenden. Eine Minderheit schreckt auch vor Gewalt nicht zurück.
Die Ursachen dafür sind sehr vielschichtig. Zum einen haben wir ein Integrationsproblem. Vor allem bei Jugendlichen in den großen Städten gibt es enorme Probleme im Bereich der Ausbildung, was ja auch durch die PISA-Studie belegt wurde. Zudem ist dort die Arbeitslosigkeit besonders hoch. Viele Jugendliche fühlen sich ausgegrenzt vom gesellschaftlichen Leben in Deutschland, etwas, was ja auch häufig als Ursache der Londoner Anschläge genannt wird. Es gibt Jugendliche, die sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Sie sollten eigentlich Teil unserer Gesellschaft sein. Aber sie empfinden sich als nicht gleichwertig.
Dazu kommt, dass wir es jetzt mit einem völlig neuen Phänomen zu tun haben. Nämlich mit Extremisten, die ganz gezielt diese Jugendlichen mit fundamentalistischem Gedankengut zu infizieren versuchen. So geschehen in London in den dortigen pakistanischen Schulen und Medressen. Wir müssen dringend herausfinden, ob so etwas auch in Deutschland vor sich geht.
In Deutschland werden schärfere Überwachungsmaßnahmen diskutiert. Bundesinnenminister Schily will Moscheen genauer unter die Lupe nehmen und die Abschiebung von Hasspredigern und Imamen erleichtern. Was halten Sie von solchen Vorschlägen?
Özdemir: Ich glaube nicht dass es uns weiterhilft, wenn wir Fronten aufbauen entlang der Religionen, d.h. Islam gegen Christentum. Unsere einzige Chance ist es, auf gemeinsame Werte zu setzen und mit moderaten Muslimen Seite an Seite gegen die Terrorbedrohung vorzugehen. Alle anderen Vorschläge werden kaum Erfolg haben können, denn sie stigmatisieren alle Muslime, so dass auch harmlose Mitmenschen auf einmal grundsätzlich verdächtigt werden.
Allerdings müssen die Muslime auch bereit sein, mit der Polizei und den Sicherheitsapparaten zusammen zu arbeiten, um den Missbrauch ihrer Religion zu verhindern. Ich begrüße die klare Ablehnung der Londoner Anschläge durch muslimische Vertreter. Aber sie müssen noch weiter gehen und ein Auge darauf haben, was in den Moscheen vor sich geht, darauf achten, was junge Muslime tun. Aber wichtig ist eben eine bessere Integration junger Muslime in Deutschland.
Diese Debatten gab es nach jedem der Terroranschläge der letzten Jahre. Aber was hat sich denn in den muslimischen Gemeinden seit dem 11. September 2001 tatsächlich getan?
Özdemir: Es ist falsch, davon auszugehen, dass die Mehrheit der Menschen, die in die Moscheen gehen, akademisch gebildet sind, fließend Deutsch sprechen und alle Facetten unseres gesellschaftlichen Lebens kennen. Die meisten kommen aus Arbeiterfamilien, sind nur gering gebildet und stammen aus ländlichen Gebieten ihrer Heimatländer. Diese Leute wissen nicht, wie man Demonstrationen organisiert oder politische Prozesse in Gang setzt. Es ist naiv anzunehmen, dass diese Menschen etwas aus eigener Kraft gegen Terrorismus tun können.
Andererseits gibt es sehr wohl Menschen in diesen Gemeinden, die sich in unserer Gesellschaft auskennen. Das sind vor allem Immigranten der zweiten Generation. Aber auch innerhalb der muslimischen Gemeinden existiert ein Kommunikationsproblem und der Schlüssel zur Terrorprävention liegt meiner Ansicht nach in der Verbesserung der inner-muslimischen Kommunikation.
Wie können denn Werte wie "Freiheit" und "Gleichheit" muslimischen Immigranten besser vermittelt werden?
Özdemir: Indem wir klar machen, dass es sich nicht primär um christliche Werte handelt, sondern um universelle Werte, die für alle gelten, unabhängig von ihrer Religion. Niemand, der in unserem Land lebt, kann ein Problem damit haben, sich zu den Werten unseres Grundgesetzes zu bekennen.
Wie beurteilen Sie denn die Beziehungen zwischen Muslimen und Deutschen zurzeit? Und wie könnte man diese Beziehungen verbessern?
Özdemir: Zunächst gibt es den Gegensatz "Deutscher" und "Muslim" nicht. Man kann durchaus Deutscher und Muslim zugleich sein. Da sollten wir nicht den Fundamentalisten in die Falle gehen und diese Konfrontation künstlich aufbauen. Zu sagen, alle Muslime sind Terroristen, nur weil es einen bin Laden gibt, ist so absurd, als würde man sagen, alle Christen sind Verbrecher wegen des Genozids in Bosnien, verübt von Christen.
Es ist ganz klar, dass die Strategie eine zweigleisige sein muss. Wir müssen schauen, dass wir unsere Sicherheitsorgane in die Lage versetzen, alles zu tun, um unsere Bevölkerung zu schützen. Und gleichzeitig müssen wir - da geht's um langfristige und mittelfristige Dinge - dafür sorgen, dass das Zusammenleben besser wird, dass wir mit der Integration mehr Erfolg haben.
Wir müssen uns verstärkt dem Thema Integration widmen und dafür sorgen, dass es möglich wird, zu sagen: ich bin Deutscher Staatsbürger aber muslimischen Glaubens. Wir müssen es schaffen, dass der Islam heimisch wird und Teil einer Palette von Religionen in unserem Land.
Interview: Sonia Phalnikar
© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2005
Qantara.de
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