Der schöne Schein demokratischer Wahlen
Was erwarten Sie von der bevorstehenden Parlamentswahl?
Adlène Meddi: Der Staat ist sehr froh, dass der arabische Frühling Algerien bislang nicht berührt hat. Man will den Algeriern einreden, dass die Veränderungen in Syrien, Ägypten, Libyen eine Bedrohung seien. Aber wir bekommen natürlich mit, was passiert, schließlich haben wir Internet und Satellitenfernsehen.
Deshalb hat die Regierung eine Parlamentswahl verkündet, bei der plötzlich über ein Dutzend völlig neue Parteien zur Wahl stehen. Es ist offenkundig, dass das Regime mit dieser Wahl sein Image im Ausland aufpolieren will. Eine Chance für Veränderungen sehe ich nicht.
Glauben Sie dass die Islamisten in Algerien ähnlich erstarken werden wie bei den Wahlen in Tunesien und Ägypten?
Meddi: Nein. Aus Sicht des Staates besteht bei dieser Wahl das größte Risiko im Boykott, wenn die Leute einfach gar nicht wählen gehen. Das ist das wirkliche Problem bei dieser Wahl. Alle reden von den Islamisten, dass Algerien vielleicht ähnlich wie Marokko oder Tunesien oder Ägypten einen Wahlsieg der Islamisten erleben könnte.
Aber wir haben keine islamistische Opposition. Die meisten unserer Islamisten sind vom Regime vereinnahmt worden. Man nennt sie hier die "Islamisten des Basars". Sie machen alle irgendwelche Geschäfte, die meisten sind korrupt. Der Staat hat in den vergagnenen Jahren dafür gesorgt, dass die sogenannten "moderaten" Islamisten, just die Ministerien bekamen, wo man sich am leichtesten bereichern konnte. Wie zum Beispiel das Ministerium für öffentliche Bauarbeiten, wo es in der Vergangenheit riesige Korruptionsskandale gegeben hat.
Anders gesagt: Wir haben keine wirkliche Wahl – tatsächlich handelt es sich um ein Theaterstück mit neuen Parteien, die überhaupt nicht im Volk verankert sind, weder personell noch ideologisch. Das Ganze läuft auf Wandel unter Beibehaltung des Status Quo hinaus – ein Wandel in der Kontinuität.
Was bedeutet das mittelfristig für die politische Entwicklung Algeriens?
Meddi: Es ist dramatisch: Die Kluft zwischen der Gesellschaft und dem Staat wird immer tiefer. Laut den offiziellen Polizeistatistiken hat es allein im Jahr 2011 insgesamt 11.000 Protestaktionen in Algerien gegeben, also knapp 300 pro Kalendertag. Das ist fast soviel wie in China – wirklich beeindruckend.
Worum geht es bei diesen Protesten?
Meddi: Es sind Proteste aus konkretem Anlass: die ungerechte Verteilung von Wohnungen, der schlechte Zustand der Straßen, was unter anderem dazu führt, dass Kinder nicht zur Schule gehen können, die unzureichende Wasserverorgung, die Vetternwirtschaft bei der Vergabe von Arbeitsplätzen...
Wie reagiert der Staat auf die Proteste?
Meddi: Die Notstandsgesetze sind im Februar 2011 aufgehoben worden. Das ist nun mehr als ein Jahr her. Aber bis heute dürfen wir hier in Algier nicht legal demonstrieren.
Wenn man sieht, dass Lehrer, Krankenpfleger, Arbeitslose mitten in Algier auf den Straßen verhaftet werden, nur weil sie für ihre Rechte demonstrieren, dann ist das schlimm.
Trotz der Protestaktionen hat man den Eindruck, dass viele Algerier resigniert haben.
Meddi: Das Trauma der 1990er Jahre spielt hier eine große Rolle. Bei vielen Menschen hat sich als Denkmuster festgesetzt, dass jegliche politische Veränderung mit extremer Gewalt einhergeht. Sie haben das Beispiel Libyen vor Augen, aber vor allem den Terror der 1990er Jahre.
Das einzige Mal, dass Algerien wirklich eine tiefgreifende Veränderung erlebt hat, war das Jahr 1988, als die Regierung wechselte. Doch nur drei Jahre später begann die Welle extremer Gewalt: In den darauffolgenden Jahren wurden schätzungsweise 150.000 bis 200.000 Menschen getötet. Das macht den Algeriern bis heute Angst. Aber das Potential für Protest und politisch motivierte Gewalt ist trotzdem da.
Mit den nationalen Gesetzen über Eintracht und Versöhnung von 1999 und 2005 ist die Aufarbeitung des Bürgerkriegs in den 1990er Jahren offiziell beendet worden. Ist ein Neuanfang möglich – ohne Wahrheit, ohne Gerechtigkeit?
Meddi: Es herrscht Konsens darüber, dass wir in den 1990er Jahren ein Trauma erlebt haben. Aber gleichzeitig ist es sehr schwierig, über diese Zeit zu sprechen. Die Menschen versuchen stattdessen, zu vergessen. Das Trauma wird verdrängt – durch Konsum, durch Geld.
Als in den 1990er Jahren die Massaker an der Zivilbevölkerung verübt wurden, war der Ölpreis niedrig. Als der Frieden zurückkam, im Jahr 2000 und in den darauffolgenden Jahren, stieg der Ölpreis wieder an, der Staat hatte wieder mehr Geld zu verteilen. So fiel es den Menschen leichter, zu vergessen. Man schaute Satellitenfernsehen – und dann ging es eher darum: Wer hatte als erster einen Wagen mit Vierradantrieb, wer hatte als erster einen Plasmabildschirm…
Am 5. Juli 2012 jährt sich die Unabhängigkeit Algeriens zum fünfzigsten Mal. Sie wurden 1975 geboren. Was empfinden Sie an diesem Jahrestag?
Meddi: Was macht man an einem Jahrestag? Man feiert selbstverständlich, aber man zieht auch Bilanz: Was haben wir in den letzten 50 Jahren gemacht? Für die Mächtigen ist diese Frage unangenehm, denn sie müssen sich fragen: Was haben wir den Menschen gegeben? Mehr Freiheit? Nein. Soziale Gerechtigkeit? Nein. Gute Bildung und gute medizinische Versorgung? Nein. Das Regime ist sich dessen bewusst. Deshalb reagiert es aggressiv.
Ich würde mir wünschen, dass wir an diesem 50. Jahrestag auf die ursprünglichen Ziele der algerischen Revolution schauen, wie sie in der Charta von 1954 formuliert wurden: ein Mehrparteiensystem, soziale Gerechtigkeit – ein echtes Gegenmodell zum kolonialen System.
Im Vorfeld des 50. Jahrestages der Unabhängigkeit hat die algerische Tageszeitung "El Watan" gemeinsam mit dem französischen Online-Nachrichtendienst "OWNI" ein ambitioniertes Projekt gestartet: "Mémoires d'Algérie", eine Art online-Archiv des algerischen Unabhängigkeitskrieges. Was ist das Besondere an diesem Projekt?
Meddi: Wir haben in Frankreich und Algerien öffentlich dazu aufgerufen, dass die Menschen uns Materialien über den algerischen Bürgerkrieg schicken: Dokumente, alte Fotos, Audios, Videos. Die Reaktion war überwältigend. Ein Teil steht bereits auf der Online-Seite. Wir haben tausende Dokumente erhalten, viel mehr als wir so schnell verarbeiten konnten, denn wir lassen alles von Fachleuten prüfen.
Zum ersten Mal in der Geschichte gibt es die Möglichkeit, dass Franzosen und Algerier gemeinsam an der Geschichte schreiben, und das auf ganz neue Art und Weise. Denn es funktioniert erstens per Internet, zweitens hat jeder Zugang, und drittens, haben wir praktisch kein Zeitlimit. Das wirklich Interessante sind die Leute, die die Geschichten ihrer Eltern erzählen. Da geht es um Ängste, um persönliches Leid – das ist etwas ganz anderes als die Heldengeschichten, die man in der Vergangenheit so oft zu hören bekam.
Sie sind nicht nur Journalist, sondern Sie schreiben auch Kriminalromane im Stile der französischen "Série noire". Der algerische Autor Yasmina Khadra ist mit seinen anspruchsvollen literarischen Krimis und Kommissar Llob in den letzten Jahren international zum Bestseller avanciert. Bislang ist Algerien das einzige Land in der MENA-Region, in dem es eine autochthone Krimiliteratur gibt. Woran liegt das?
Meddi: Jorge Luis Borges, der argentinische Schriftsteller sagt: Der Krimi ist eine der letzten Möglichkeiten, etwas Ordnung in das allgemeine Chaos zu bringen. Es gibt ein Verbrechen, eine Ermittlung, einen Täter und eine Verurteilung.
Im Algerien der 2000er Jahre gibt es ein Verbrechen, eine Ermittlung, aber keine Verurteilung. Das ist eine Frage, die mich als Algerier sehr bewegt, als jemand der in seiner eigenen Familie Opfer zu beklagen hat, die von islamistischen Gruppen getötet wurden.
In ihrem Roman "Das Gebet des Mauren" von 2008 ging es um die 2000er Jahre. Ihr neuester Roman mit dem Arbeitstitel "1994" spielt in den 1990er Jahren. Sie waren damals Gymnasiast und haben den Terror sehr bewusst erlebt. Wie war es für Sie, auf diese Zeit zurückzublicken?
Meddi: Ich hatte viele schlimme Bilder einfach zur Seite geschoben. Aber ich spürte, dass etwas in mir arbeitete, denn ich schlief oft schlecht und hatte Alpträume.
Als meine Tochter geboren wurde, ging es mir richtig schlecht, weil ich mich gefragt habe: Was werde ich ihr für das Leben mitgeben können? Wird es meine Portion Gewalt sein, mein Hass? Und als ich bei den Recherchen für das Buch die Ereignisse von damals noch einmal durchgearbeitet habe, ist mir vieles klar geworden: Für mich war der Roman eine Art Therapie.
Interview: Marlyn Touma
© Qantara.de 2012
Adlène Meddi, geboren 1975, ist Chefredakteur von "El Watan Weekend" und Autor mehrerer Romane, u.a. "Le casse-tête turc" (Algier 2002) und "La Prière du Maure" (Algier/Marseille 2008)
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de