Die Lösung des Kurdenkonflikts als Gradmesser für die Demokratie
Bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen August wurde Selahattin Demirtaş von der HDP, der knapp zehn Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, als eigentlicher Sieger der Wahl bezeichnet. Worauf lässt sich sein Erfolg zurückführen?
Sırrı Süreyya Önder: Mehrere Aspekte waren dafür ausschlaggebend: Zunächst einmal waren zwei der drei Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten ähnlich konservativ eingestellt und galten vielen linksorientierten Menschen in der Türkei schon fast als Kopien. Für sie war diese Auswahl gewiss ernüchternd. Städtische Linke und Sozialdemokraten haben daher bis heute eine klar ablehnende Haltung eingenommen, nach dem Motto: Alles wird besser, wenn Erdoğan erst mal weg ist. Doch das hat nur dazu geführt, dass er noch mehr an Stärke gewann.
Als jene Partei, auf die sie ihre ganze Hoffnung gerichtet hatten, einen Kandidaten präsentierte, der dieselben Eigenschaften wie Erdoğan besaß, bedeutete das eine herbe Enttäuschung für diese Wählerschichten. Doch dann gab es ja noch die HDP, eine junge Partei, die schon drei Wochen nach ihrer Gründung versucht hatte, sich bei den Kommunalwahlen zu behaupten und die Menschen von ihren Prinzipien zu überzeugen.
Als ihr Vorsitzender Selahattin Demirtaş begann, dieses linke Vakuum politisch zu füllen, zog er die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf sich, so dass sie ihn zumindest in der ersten Runde der Wahlen unterstützen wollten. Ein weiterer Aspekt sind die Kurden, die bislang die AKP favorisiert hatten und es bei den Präsidentschaftswahlen aber als Ehrensache ansahen, ihre Stimme einem Kandidaten zu geben, der die kurdische Identität unterstrich. Hinzu kommt, dass die HDP über 20 oppositionelle politische Gruppen unter einem Dach vereint. Ich denke daher, dass ihr Wahlerfolg letztlich auf diese Synergie zurückzuführen ist.
Kann man sagen, dass mit der HDP eine neue Opposition entsteht?
Önder: Diese Entwicklung hat bereits eingesetzt und dieser Prozess wird auch weitergehen. Vielleicht ist es noch etwas zu früh, einen Vergleich zur "Syriza" in Griechenland zu ziehen, aber – und das ist meine persönliche Einschätzung – die Menschen beobachten bei politischen Institutionen und Führern sehr genau die politischen Konsequenzen ihres Handelns. Wenn also das, was wir vor den Wahlen versprochen haben, mit unserem Tun und Handeln übereinstimmt, wird auch das Interesse an unserer Politik spürbar wachsen.
Sie sind einer der Hauptunterhändler bei den Verhandlungen des Kurdenkonflikts und häufig im Gespräch mit dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan. Wie zufrieden sind sie mit dem Fortschritt bei den Verhandlungen?
Önder: Vor ein paar Wochen wurde das Verhandlungsrahmengesetz verabschiedet. Davor gab es einen Dialogprozess. Das sieht auch Öcalan so. Ich bin niemand, der reflexhaft nach neuen Gesetzen ruft, aber dieses Gesetz halte ich für wichtig, weil es die Aufgaben und Verantwortungen beider Seiten definiert und es gleichzeitig die Überprüfung durch das Volk ermöglicht.
Persönlich sehe ich das so: Gäbe es keine Verhandlungen, wäre die Konsequenz die Fortsetzung des Konflikts, wobei es keinen Sieger gibt. Und am Ende wird man doch wieder zu den Verhandlungen zurückkehren, aber einen hohen gesellschaftlichen Preis dafür bezahlen. Jedes verlorene Leben ist ein Hindernis für den Dialog und für künftige Verhandlungen.
Während meiner Teilnahme an den Verhandlungen habe ich gemerkt wie wichtig es ist, am Tisch sitzen zu bleiben und, im Falle einer Verhandlungsblockade, ein neues Fenster zu öffnen. Ich bin optimistisch was die Zukunft dieser Verhandlungen angeht, vorausgesetzt es kommt zu keinen gravierenden politischen Zwischenfällen. Das erste Mal in der Geschichte der Türkei sitzen Türken und Kurden gemeinsam an einem Verhandlungstisch ohne eine dritte vermittelnde Partei.
Ich denke, dass wir nicht nur das Kurdenproblem lösen, sondern gleichzeitig das Land demokratischer und zu einem lebenswerteren Ort machen. Die Frage, wie wir den Kurdenkonflikt lösen, wird auch ein Gradmesser für die Demokratie in diesem Land sein.
Deutschland liefert seit einigen Wochen Waffen an die irakischen Kurden. In diesem Zusammenhang wird auch darüber diskutiert, die PKK nicht mehr als Terrororganisation einzustufen. Wie wirken sich diese Entwicklungen auf die Kurden in der Region und die Verhandlungen der Türkei mit der PKK aus?
Önder: Ich halte die Position des Westens, nicht nur Deutschlands, für problematisch. Für mich ist diese Politik weder aufrichtig noch konsequent, da die PKK doch heute genau das macht, was sie schon immer getan hat, nämlich die Fortsetzung des Kampfs um nationale Unabhängigkeit.
An keinem Ort der Welt gilt eine Organisation, die bei jeder Wahl drei Millionen Stimmen erhält, Abgeordnete im Parlament stellt, in Gewerkschaften organisiert ist und bei der Männer und Frauen von sieben bis 70 Jahren am organisierten zivilen Kampf beteiligt sind als Terrororganisation. Wenn man sich nur auf den bewaffneten Kampf beschränkt und die Organisation deshalb in die Liste der Terrororganisationen aufnimmt, ist das eine politische Haltung. Wenn man sie nun von der Liste streicht, dann geschieht das aus einem bestimmten Kalkül. Für mich ist das opportunistisch. Angesichts der Brutalität, mit der der Westen schlagartig konfrontiert war, musste er sich mit der einzigen säkularen Macht in der Region verbünden. Die Kurden brauchen keine Waffen. Und wenn der Westen denkt, dass er sich von der Brutalität befreien kann, wenn er den Kurden mehr Waffen liefert, dann ist das ein schlimmer Fehler. In der nordsyrischen Region Rojava zum Beispiel hat sich das Volk selbst organisiert und mit einfachen Infanteriewaffen verteidigt.
Was sollten denn Ihrer Meinung nach die westlichen Staaten tun?
Önder: Ein erster Schritt könnte sein, die PKK von der Terrorliste, auf die sie sie mit einem sinnlosen Reflex gesetzt haben, wieder zu streichen. Damit wird das kurdische Volk an Selbstbewusstsein gewinnen und es wird sich selbst verteidigen, weil es um sein eigenes Territorium kämpft – im Gegensatz zu den IS-Kämpfern, die aus allen Teilen der Welt kommen.
Recep Tayyip Erdoğan sieht mit seinem Projekt 2023 vor, die Türkei global zu einem der zehn führenden Volkswirtschaften zu machen. Worin besteht Ihr Vision für das Jahr 2023?
Önder: Erdoğan muss dazu erst einmal eine Demokratie erschaffen, in der es keine Ausnahmen gibt. Es wurde in den letzten Jahren immer wieder als Ausrede angeführt: Wir hätten ja wirklich demokratische Verhältnisse wären da nicht die Terroristen, die Linken, die Kurden, etc. Immer gab es derartige Begründungen, die Demokratie aufzuschieben, aber Demokratie ist nun mal ein System, das keine Ausreden akzeptiert. Nur mit mehr Freiheit und Demokratie können die Probleme beseitigt werden und dann wäre auch das Projekt 2023 realistisch.
Ceyda Nurtsch
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