"Niemand ist sicher in Gaza"
Dr. Gilbert, wie stellt sich die gegenwärtige Situation im Gazastreifen aus Ihrer Sicht dar?
Mads Gilbert: Die israelische Armee bombardiert gegenwärtig alle Gebiete im Gazastreifen und es ist nicht zu erkennen, dass dabei bestimmte Orte von den Angriffen verschont würden. Die Bewegungsfreiheit ist stark eingeschränkt, die Menschen können nicht auf die Straße gehen, weil sie fürchten, möglicherweise von Raketen getroffen zu werden, die von israelischen Flugzeugen über Gaza abgefeuert werden. Immer wieder hört man das Dröhnen der F-16-Kampfjets. Abends setzte auch ein heftiger Beschuss durch israelische Kriegsschiffe ein, die vor der Küste Stellung bezogen haben und auch Wohngebiete beschossen. Es ist wie ein andauerndes, nicht endendes starkes Gewitter.
Vor welche Probleme wird das Al-Shifa-Krankenhaus, in dem Sie als Freiwilliger arbeiten, seit Ausbruch des Konflikts gestellt?
Gilbert: Immer wieder kommen Sanitäter mit neuen Verletzten und Getöteten in das Krankenhaus. Inzwischen ist daraus ein nicht abreißender Menschenstrom geworden. 695 Menschen wurden bereits getötet, darunter 166 palästinensische Kinder, 4.990 sind verwundet, davon 1.310 palästinensische Kinder. Diese Zahlen spiegeln sich auch in den Neuaufnahmen im Al-Shifa-Krankenhaus wider. Nicht alle der Verletzten kommen in unser Krankenhaus, weil es auch noch andere gibt. Aber weil davon einige zerstört wurden, wie das Aqsa-Hospital, hat sich die Gesamtkapazität im Gazastreifen minimiert. Deshalb kommen nun viel mehr Verletzte zu uns.
Die Stromversorgung unseres Krankenhauses läuft über Generatoren, die jedoch häufig ausfallen. Dann schalten sich automatisch alle Geräte ab: Ventilatoren, die Beleuchtung der Krankenzimmer, Internetverbindungen … alles bricht zusammen und man weiß nicht, wann die Stromversorgung wieder funktioniert.
Wir hören regelmäßig die Bombeneinschläge, die dröhnenden Kampfjets am Himmel und die Raketenangriffe – manchmal nicht weit vom Krankenhaus entfernt. Wir hören auch die Raketen, die vom Gazastreifen aus abgeschossen werden. Es ist ein Krieg und wir stecken mittendrin.
Das Hospital ist überfüllt mit Binnenflüchtlingen, ihre Wohnungen und Häuser werden von der israelischen Armee unter Beschuss genommen. Von Tag zu Tag ändert sich die Szenerie ein wenig, doch was dabei stets bleibt ist die Hoffnungslosigkeit. Der Parkplatz vor dem Haupteingang ist mittlerweile überfüllt mit Angehörigen der eingelieferten Patienten, die nicht wissen, wohin sie gehen sollen, weil mittlerweile ganze Häuserblocks und Dörfer bombardiert worden sind.
Kann denn für die Lebensmittelversorgung der Zivilbevölkerung im Gazastreifen wirklich noch garantiert werden?
Gilbert: Wie der Rest des Gazastreifens erfährt auch das Al-Shifa-Krankenhaus seit nunmehr sieben Jahren die Folgen der Besatzung. Die Nachschubwege funktionieren nicht mehr und das Problem, das den gesamten öffentlichen Sektor Gazas betrifft, ist, dass die Wirtschaft komplett am Boden liegt. Auf die Besatzung folgte der Bau von Tunneln unter der Grenze nach Ägypten, die aber inzwischen geschlossen sind. Mehr als 1.000 dieser Tunnel gewährleisteten früher die Versorgung: durch sie gelangten Benzin, Hühner, Esel, Autos und was immer zum Überleben benötigt wurde in den Gazastreifen. Als die Ägypter die Tunnel geschlossen hatten, vervierfachten sich die Treibstoffpreise, eine Steigerung um 400 Prozent – danach funktionierte nichts mehr wie es zuvor einmal war.
Mit welchen Verletzungen werden die meisten Patienten eingeliefert, die Sie behandeln?
Gilbert: Die Verwundungen sind umfassend und es bedarf großer Anstrengungen, den Verletzten das Leben zu retten. Natürlich kommen auch Menschen mit Kratzern und anderen oberflächlichen Wunden zu uns, aber die nehmen wir gar nicht erst auf. Bei den Verwundeten, die wir operieren handelt es sich oft um sehr komplizierte Fälle, weil die von den Israelis verwendeten Waffen Produkte der modernen Rüstungsindustrie sind, entwickelt vom israelischen Militär und der US-Armee sowie von Universitäten beider Länder.
Selbst eine nur kleine Rakete, die von ihnen abgefeuert wird, kann sehr schwere Verletzungen verursachen, Arme und Beine abreißen. Gebäude fallen in sich zusammen, was zu weiteren Verwundungen wie Frakturen und Schädelverletzungen führt. Die von den israelischen Panzern abgefeuerten Granaten richten grauenhafte Verwundungen an. Die Granatsplitter der Artillerie können noch viele hundert Meter weiterfliegen und sind scharf wie Rasierklingen. Sie können den Hals abschneiden, in den Kopf eindringen, in die Brust oder in den Bauch und dort schwere Blutungen verursachen. Heute Nachmittag haben wir versucht einen Mann zu retten, bei dem hunderte Granatsplitter in den ganzen Körper eingedrungen waren. Er verblutete noch bevor er im Krankenhaus war. Wir konnten ihn nicht einmal mehr in den Operationssaal bringen, sondern mussten ihn in der Ambulanz behandeln.
Wie geht die Belegschaft des Krankenhauses mit diesen unglaublichen Herausforderungen um?
Gilbert: Trotz dieses Chaos stehen die Palästinenser noch immer aufrecht. Sie bleiben freundlich und sind ausdauernd. Sie bewahren ihre Kultur, so wie sie es schon immer getan haben, und arbeiten sehr viel, um allen Patienten in dem Krankenhaus zu helfen.
Die meisten Mitarbeiter im Hospital haben noch keinen Lohn erhalten. Seit vier Monaten haben sie keine Gehälter mehr bezogen. Schon in den acht Monaten davor mussten sie mit 50 Prozent ihres bisher üblichen Gehalts auskommen. Aber alle Ärzte, Krankenschwestern und Sanitäter versehen noch immer regelmäßig ihren Dienst. Seit 16 Tagen arbeiten sie praktisch rund um die Uhr, um so vielen Menschen wie möglich zu helfen. Sie schlafen im Krankenhaus, viele von ihnen haben ihre Häuser durch Bombenbeschuss verloren, einige haben Angehörige, die verletzt oder sogar getötet wurden.
In der Nacht des Massakers von Shujayea im Osten der Stadt bekamen drei unserer Ärzte einen Anruf von ihren Familien, die ihnen sagten, dass ihre Häuser von Bomben zerstört wurden. Trotzdem haben sie weitergearbeitet. Der Krieg betrifft jeden, und doch arbeitet doch jeder weiter.
Wie schaffen Sie es trotz der widrigen Umstände an Ihrer Arbeit im Krankenhaus festzuhalten?
Gilbert: Was mich dazu veranlasst weiterzumachen, ist die enorme Kraft, die ich von den Palästinensern in Al-Shifa erhalte. Alle Patienten und deren Angehörigen, die ich treffe, strahlen diese ruhige Würde aus. Sie glauben fest daran, dass sie ein Recht haben, hier zu leben und wie Menschen behandelt zu werden. Das ist es, was mich so bewegt. Ich beobachte immer mehr Patienten, vor allem Zivilisten, die zu uns kommen. Und ich weiß: Wenn ich sie im Stich lassen würde, dann würde ich ein Teil des gesamten Problems sein, ein Teil dieser Ignoranz und Brutalität.
Glauben Sie, dass das Al-Shifa-Krankenhaus im Moment noch sicher ist?
Gilbert: Das müssen Sie die israelische Regierung und das Sicherheitskabinett fragen. Wir wissen es nicht. Sie kündigen ja nicht vorher an, wenn sie ein bestimmtes Ziel treffen wollen. Israel übt zurzeit systematischen Terror aus. Dafür gibt es keine Rechtfertigung, denn eigentlich sollte es doch genug politische Alternativen geben. Es hätte eine politische Diskussion darüber stattfinden müssen, wie es den beiden verfeindeten Lagern gelingen kann, die Situation ohne Blutvergießen zu klären. Können wir uns denn sicher fühlen in diesem Krankenhaus, mit all den Kampfflugzeugen über uns und den Kriegsschiffen vor der Küste? Wenn wir all die zerschossenen Körper und die gebrochenen Knochen der Kinder sehen? Nein! In Gaza ist niemand sicher. Aber wir werden uns dem Druck nicht beugen.
Welche Schritte müsste die internationale Staatengemeinschaft einleiten, um den Konflikt rasch zu beenden?
Gilbert: Was wir brauchen ist Solidarität. Wir brauchen Menschen, die hinschauen und sich nicht abwenden vom Gaza-Krieg. Vor zwei Tagen wurde hier eine deutsche Familie getötet. Mich würde interessieren, was Frau Merkel dazu sagt. Für mich zählt Solidarität heute zu den wichtigsten Werten der internationalen Politik. Leider wird ihr wenig Beachtung geschenkt. Wir müssen die Verantwortung für die Probleme der Welt teilen, wir können uns nicht einfach von ihnen abwenden. Es ist wichtig, dass die Palästinenser erkennen, dass sie nicht allein gelassen werden.
Das Interview führte Roma Rajpal Weiss.
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol
© Qantara.de 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de