"Ich bin innerlich genauso zerrissen wie mein Heimatland"
Frau Yazbek, das Thema Flüchtlinge beherrscht derzeit die öffentliche Debatte in Europa. Ein Großteil der Migranten stammt aus Ihrer Heimat Syrien. In Ihrem neuen Buch "Die gestohlene Revolution – Reise in mein zerstörtes Syrien" beschreiben Sie, wie Sie rund ein Jahr nach Ihrer eigenen Flucht nach Frankreich im Juli 2011 ins Land zurückgekehrt sind. Dreimal waren Sie zwischen August 2012 und August 2013 im Norden Syriens. Warum sind Sie in dorthin gereist?
Samar Yazbek: 2012 war die Lage in Syrien noch nicht so schlimm wie heute. Ich dachte damals, dass es möglich sei, in die Gebiete im Norden, die von dem Regime von Baschar al-Assad befreit sind, dauerhaft zurückzukehren. Ich wollte über das Leben dort schreiben und einige Frauen- und Schulprojekte aufbauen. Aber die Lage verschlechterte sich dermaßen, dass ich 2013 das Land endgültig verlassen musste.
Wie genau hat sich die Lage in Syrien verschlechtert?
Yazbek: Seit 2012 hat sich die Situation tiefgreifend verändert. Die Freie Syrische Armee und viele zivilgesellschaftliche Organisationen sind immer schwächer geworden. Währenddessen wurden die dschihadistischen militärischen Gruppen immer stärker. Die Grenzen zur Türkei wurden für alle Sorten von Kämpfern und Söldnern immer durchlässiger. Und seit dem Frühjahr 2013 trat dann auch der sogenannte "Islamische Staat" (IS) mehr und mehr in Erscheinung. Die ganze Zeit hinweg setzten die Assad-Truppen ihren Beschuss und die Bombardierung der Gegenden, die sich der Kontrolle des Regimes entzogen hatte, fort: mit Artillerie und Kanonen, mit Fassbomben, Müllcontainern, Streubomben und – im August 2013 in der Region Ghuta – mit Giftgas. Die Bevölkerung wurde regelrecht ausgerottet. Heute kommen die Angriffe des Regimes vom Himmel und vom Boden die der radikalen Dschihadisten.
Unterscheidet sich das Bild der Lage in Syrien, das viele westliche Medien zeigen, von dem Ihren?
Yazbek: In den Medien spricht man hierzulande fast ausschließlich über die Flüchtlinge und den IS. Aber die Situation ist komplizierter. 2011 erhob sich in Syrien eine friedliche Protestbewegung, die in der ganzen Bevölkerung Rückhalte hatte. Sie forderte Freiheit, Gerechtigkeit, Rechtsstaat und Demokratie. Aber das Regime schlug die Proteste auf brutalste Weise nieder: durch Verhaftungen und Massaker – und indem es den Konfessionalismus im Land anheizte. Infolgedessen kam es zur Militarisierung der Revolution.
Die Freie Syrische Armee wurde gegründet und war anfangs sehr stark. Aber sie erhielt durch die Weltgemeinschaft keine Unterstützung. Schlimmer noch: Einige Länder wie Russland, die USA, Iran oder die Türkei haben jeder ihre eigenen Interessen im Land verfolgt. Nachdem Iran und die Hisbollah unter dem Deckmantel der Religion in den Konflikt eingegriffen hatten, gab es eine religiöse Reaktion der Sunniten. Und nachdem der IS aufgetaucht ist, ist Syrien zum Anziehungspunkt für Extremisten aus der ganzen Welt geworden. Der IS ist das Ergebnis der Brutalität des Assad-Regimes.
Das heißt, die internationale Gemeinschaft trifft mit der Bekämpfung des IS nicht den Kern des Problems?
Yazbek: Natürlich ist der IS eine terroristische Organisation, die bekämpft werden muss. Aber auch Baschar al-Assad ist ein Terrorist. Das eigentliche Problem ist der Fortbestand des Regimes. Die Menschen in Syrien flüchten nicht nur vor dem IS, sondern auch vor den Fassbomben Assads. Als im letzten August etwa einhundert Menschen in der Stadt Douma durch Assads Bomben umgebracht wurden, hörte man man kaum etwas darüber.
Ihr Buch trägt den Titel "Die gestohlene Revolution". Wer hat sie gestohlen?
Yazbek: Wer hat die Extremisten mit Geld und Waffen ausgerüstet? Wer ist dafür verantwortlich, dass der IS das halbe syrische Territorium besetzt hält? Durch ihre stillschweigende Übereinkunft mit dem, was in Syrien passiert, ist auch die Weltgemeinschaft für den Diebstahl der Revolution verantwortlich. Ebenso die Staaten, die in Syrien nur die eigenen Interessen verfolgen. Aber solange das Chaos auf Syrien beschränkt bleibt, interessiert sich die Welt in keiner Weise dafür, was dort passiert.
Der Staat ist also zerfallen?
Yazbek: In Syrien herrscht Chaos. Es gibt nur noch einzelne Regionen, wo irgendjemand regiert: die Nusra-Front, der IS, die Hisbollah, das Assad-Regime, die Iraner, die Russen – jeder hat seinen Einflussbereich. Die meisten Aktivisten, die die Revolution angefangen haben, sind heute vertrieben oder tot.
Es gibt nur noch wenige Gegenden, in denen sie aktiv sind. Und solange Assads Bombardierungen nicht aufhören, ist es sinnlos, über eine politische Lösung zu sprechen – wofür ich eigentlich bin.
Was müsste passieren?
Yazbek: Eine Lösung ist heute sehr schwierig geworden, aber es gibt Schritte, die unternommen werden müssten: Man sollte eine Flugverbotszone und sichere Regionen schaffen und den IS bekämpfen. Assad muss abtreten und eine Übergangsregierung eingesetzt werden. Aber für diese ersten Schritte braucht es einen internationalen Willen. Und den gibt es nicht.
Sie schreiben in Ihrem Buch: "Ein Exil, das von neuen sozialen Kommunikationsmitteln, Berichten und Fotos der sich überschlagenden Ereignisse überschwemmt wird, ist kein Exil mehr!" Was bedeutet für Sie Exil heute?
Yazbek: Die Tatsache, dass man im ständigen Kontakt mit dem Heimatland steht und mitbekommt, was dort passiert, macht das Exil schwieriger. Das eigene Ich zersplittert: Der Körper ist an einem Ort, das Denken und die Seele an einem anderen. Das verstärkt die Schmerzen und die Entfremdung. Früher war es vielleicht einfacher, im Exil zu leben. Heute denkt man ständig an die alte Heimat. Als Schriftstellerin kommt es mir vor, als ob die modernen Medien im Grunde genommen gegen mein Schreiben arbeiten. Ich habe seit fünf Jahren keine Belletristik mehr verfasst. Deswegen lebe ich als Autorin in einem speziellen Exil.
Kommt so auch die Form Ihres neuen Buchs zustande? Es handelt sich um eine Chronik Ihrer Erlebnisse mit einem journalistisch-dokumentarischen Ansatz, aber gleichzeitig ist das Buch auch sehr literarisch.
Yazbek: Ich habe mit diesem Buch versucht, mich als Schriftstellerin neu zu entdecken. In meinem ersten Buch über die Revolution habe ich nur dokumentiert. Jetzt wollte ich wieder meine Rolle als Autorin einbringen. Syrien ist heute tief gespalten und aufgrund der enormen Flüchtlingsbewegung hat sich auch Bevölkerungszusammensetzung verändert. Ich bin innerlich genauso zerrissen wie mein Heimatland.
Wird es durch das Schreiben leichter?
Yazbek: Man sagt immer, dass das Schreiben hilft, Schmerzen zu verarbeiten. Bei mir ist das Gegenteil der Fall. Je mehr ich darüber schreibe, desto größer wird der Schmerz. Alles worüber ich schreibe, wird ein Teil von mir. So entsteht in mir eine Hölle, die nicht aufhört zu lodern.
Das Interview führte Rosa Gosch.
© Qantara.de 2015
Samar Yazbek: "Die gestohlene Revolution – Reise in mein zerstörtes Syrien", Aus dem Arabischen von Larissa Bender, Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2015, 176 Seiten, ISBN 9783312006724