Gegen die Kriminalisierung des Journalismus in der Türkei

Trotz einiger Reformen und anhaltender Verhandlungen über eine Mitgliedschaft in der EU liegt die Türkei im Pressefreiheits-Ranking von "Reporter ohne Grenzen" erschreckend weit hinten. Darüber hat sich Fatma Kayabal mit Erol Önderoğlu, Türkei-Korrespondent von Reporter ohne Grenzen, in Istanbul unterhalten.

Von Fatma Kayabal

Warum rangiert die Türkei nur auf Platz 148 von 179 Ländern im Pressefreiheits-Ranking von Reporter ohne Grenzen?

Erol Önderoğlu: Zunächst einmal muss man festhalten, dass dies ja kein neues Phänomen ist. Die Türkei war auf diesem Index immer sehr weit unten platziert. Neu ist allerdings, dass die Verletzungen der Pressefreiheit heute in veränderter Form geschehen.

Während der 1990er Jahre, also zu Zeiten des unerklärten Krieges zwischen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und dem Staatssicherheitsapparat, gab es alle möglichen Eingriffe in die Freiheiten der Bürger, wobei die Presse davon natürlich nicht verschont blieb. Journalisten gerieten hierbei oft zwischen die Fronten. Doch etwa seit dem Jahr 2000, als die Türkei EU-Beitrittskandidat wurde, konnte man sehr wohl einige Verbesserungen verzeichnen. Weniger Journalisten wurden etwa in der Haft misshandelt, was im Jahrzehnt zuvor noch an der Tagesordnung war. Dafür aber entstanden andere Formen von Restriktionen und andere, bereits praktizierte Einschränkungen nahmen sogar weiter zu. Auch hat sich der Charakter dieser Eingriffe verändert.

Können Sie hierfür Beispiele nennen?

Önderoğlu: In den 1990er Jahren waren die Beeinflussung der Presse und die Verletzungen der Pressefreiheit zumeist militärisch motiviert, wobei es auch um den direkten Einfluss auf die Entscheidung zur Veröffentlichung ging, um bestimmte Diskussionen von vornherein zu unterbinden. So eröffnete etwa die juristische Abteilung des Generalstabs Gerichtsverfahren gegen Journalisten oder brachte Zivilgerichte dazu, diese zu verklagen. Doch seit 2005, nachdem die noch heute regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) an die Macht kam, wurde der Druck von Seiten des Militärs durch eine andere Art des Drucks ersetzt, der nicht auf dem Papier steht.

Was bedeutet das genau?

Önderoğlu: Bevor die AKP an die Macht kam, gab es das Kapital der Medienunternehmer, die ihre eigenen Interessen verfolgten. Nach der Regierungsübernahme der AKP brachte diese ihre eigenen sozialen und ökonomischen Strukturen mit – ihre eigenen Finanzkreisen, ihr eigenes Kapital sowie auch ihre Verbände und Stiftungen. Dieses Kapital drang nach der Machtübernahme der AKP natürlich auch in den Mediensektor vor.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan (rechts) und sein damaliger Stellvertreter Abdullah Gül (links); Foto: AP Photo/Burhan Ozbilici
Alte Probleme im neuen Gewand: Auch nach der Machtübernahme der AKP unter Erdogan 2002 hat der Druck gegen Medienvertreter nicht nachgelassen. Die Missachtung der Pressefreiheit manifestiert sich jedoch in anderer Form als unter den Generälen.

​​Oberflächlich sieht dies nach dem Ende des zuvor bestehenden Kapitalmonopols in der Türkei aus, doch ist dies nicht der Fall: Vielmehr schufen die neuen Regenten nur ein weiteres Gleichgewicht. Aus Furcht davor, vom neuen Machtzentrum womöglich ausgeschlossen zu werden, begannen die Vertreter des "alten Medienkapitals" damit, sich der Regierung anzudienen. So verloren etwa solche Journalisten ihren Job, die vom neuen Premierminister offen kritisiert wurden. Selbstverständlich fand dies alles hinter den Kulissen statt.

Aber wahrscheinlich geht es bei den Verletzungen der Pressefreiheit nicht nur um den direkten wie indirekten Druck auf die Medienkonzerne?

Önderoğlu: Nein, ganz und gar nicht. Zunächst muss ich vorausschicken, dass die Kriterien, die "Reporter ohne Grenzen" bei der Erstellung des Rankings anwendet, absolut transparent sind. Sie stützen sich auf etwa 50 Parameter, die für alle Länder gleich sind. Wenn wir uns diese Parameter genauer anschauen, fällt auf, dass in der Türkei täglich Verletzungen der Pressefreiheit zu verzeichnen sind. Dabei geht es zum Beispiel um jede Art physischen Angriffs auf Journalisten. Jedes Jahr werden in der Türkei mehr als 30 Journalisten attackiert. Die Öffentlichkeit denkt dabei zwar eher an politisch motivierte Übergriffe, doch wurden bereits auch Journalisten angegriffen, die etwa über Mafia- oder Korruptionsthemen recherchierten.

Wenn wir uns die politisch motivierten Verbrechen gegen Journalisten anschauen, wie etwa den Fall Hrant Dink, werden diejenigen, die letztlich den Abzug betätigen, zwar bestraft, nicht aber die Hintermänner, die den Auftrag dazu gaben.

Es gab einige juristische Reformen in der Türkei zur Verbesserung der Grundrechte. Warum gelingen dem Land in der Frage der Pressefreiheit nicht ähnliche Fortschritte?

Önderoğlu: Diese Reformen wurden ohne Einbeziehung der Zivilgesellschaft durchgeführt und im Kern ging es dabei ja auch nicht um eine Ausweitung der Freiheitsrechte.

Schweigemarsch anlässlich der Ermordung des Journalisten Hrant Dink am 19.01.2007; Foto: Reuters
"Wir alle sind Hrant. Wir alle sind Armenier.": Der türkisch-armenische Journalist Hrant Dink war 2007 auf offener Straße erschossen worden. Zwar wurde der Attentäter bestraft, nicht jedoch die Hintermänner, die den Auftrag dazu erteilten.

​​Abgesehen davon schränken sowohl die Anti-Terror-Gesetze als auch das türkische Strafrecht die Medien noch immer erheblich ein. Paragrafen, die die Veröffentlichung von "Statements illegaler Organisationen" verbieten, laden zum Missbrauch geradezu ein. Diese Artikel sollten in Übereinstimmung mit der Pressefreiheit gefasst werden.

Daneben gibt es Paragrafen, die auch die komplette Einstellung einer Publikation vorsehen, was nichts anderes als Zensur bedeutet. Es existieren mehr als 20 Artikel im türkischen Strafrecht, die sogenannte Verbrechen mit einer höheren Strafe belegen, werden sie über die Medien verübt. Andere Gesetze sehen ein Zugangsverbot zu bestimmten Internetseiten vor, etwa zu Youtube.

Unabhängige Journalisten wie Nedim Şener and Ahmet Şık wurden kürzlich vor Gericht gestellt und sogar inhaftiert. Die Behörden argumentierten in ihrem Fall, dass sie nicht aufgrund ihrer journalistischen Arbeit, sondern wegen ihrer angeblichen Verstrickung in Terrornetzwerken inhaftiert wurden. Was sagen Sie zu diesen Anschuldigungen?

Önderoğlu: Leider mussten wir in der Vergangenheit viele Skandale im Rechtswesen beobachten und vor diesem Hintergrund überzeugen uns diese Vorwürfe überhaupt nicht. Natürlich sagen die Behörden, dass die Journalisten nicht wegen ihrer journalistischen Arbeit, sondern aufgrund anderer Beschuldigungen vor Gericht gestellt werden. Doch fragen wir uns in jedem Fall, ob die Untersuchungen und Anklagen gegen diese Journalisten wirklich auf der Basis universeller Rechtsprinzipien durchgeführt wurden.

Meistens sind wir davon nicht überzeugt. Es gibt neue Formen der Unterdrückung und wir wollen eine Medienlandschaft, in der die Menschen frei von jeder Art staatlichen Drucks und Rechtswillkür leben können. Solche Fälle bedeuten nichts weiter als die Kriminalisierung des Journalismus.

Der türkische Journalist Nedim Sener; Foto: picture alliance/abaca
Zweifelhafte Anschuldigungen: Der Journalist Nedim Sener war offiziell nicht aufgrund seiner journalistischen Arbeit, sondern wegen des Verdachts auf Unterstützung eines rechtsgerichteten Geheimbunds verhaftet worden.

​​Außerdem denke ich aber auch, dass in unserer Gesellschaft das Bewusstsein für diese Thematik noch immer nicht ausreichend vorhanden ist. Sicher gibt es inzwischen ein Bewusstsein, doch eben auch viel Gleichgültigkeit. Die Gesellschaft denkt leider nicht: "Diese Leute arbeiten für uns, sie versuchen, uns zu informieren und nehmen dabei auch Risiken auf sich."

Wie lange wird es Ihrer Meinung nach dauern, bis sich die Position der Türkei im Pressefreiheits-Ranking verbessern kann?

Önderoğlu: Eigentlich ist der Weg dahin jedem klar. Jeder weiß, welche Reformen dazu nötig wären und auch ist jedem die Notwendigkeit einer neuen Politik bewusst, die von Freiheit und der Durchsetzung des Rechts geleitet ist. Doch die nicht konstruktiv geführten Debatten zwischen der Regierung und der Opposition, die lediglich auf dem täglichen Austausch von Floskeln und gegenseitigen Anschuldigen beruhen, verhindern dies. Es muss einen politischen Konsens zur Verbesserung geben, und die Zivilgesellschaft sollte in diesen Prozess auch eingebunden werden. Erst dann werden wir substantielle Verbesserungen sehen.

Interview: Fatma Kayabal

© Qantara.de 2012

Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de