Vom Sektierertum als nationale Sackgasse
Frau Humaidan-Junis, Sie haben den Krieg erlebt und darüber geschrieben. Sie sind zeitweise emigriert und Emigration ist eines der Schlüsselthemen in Ihrem Bürgerkriegsroman "B wie Bleiben in Beirut". Zudem stammen Sie aus einer Familie, die noch vor zwei Generationen auf dem Land lebte und traditionell mit der Seidenraupenzucht beschäftigt war. Eine Folie, die in Ihrem zweiten Roman "Wilde Maulbeeren" als Ausgangsposition dient. Wie viel Fiktion, wie viel Autobiografisches liegt Ihren Romanen zugrunde?
Iman Humaidan-Junis: Meine Romane sind fiktiv. Für "Wilde Maulbeeren" habe ich zwar einige Informationen verarbeitet, die mir mein Vater gegeben hat, aber es ist kein autobiografischer Roman. Die Protagonistin Sara ist eine fiktive Person. Allerdings gibt es eine Episode aus meiner Familiengeschichte, die mich inspiriert hat. Die zweite Frau meines Großvaters entfloh ihm. Sie entkam der Gewalttätigkeit und Machtbesessenheit dieses Patriarchen, ihr weiteres Schicksal ist unbekannt. Ich habe mich für die Frau gefreut, als ich die Geschichte hörte; sie hat mich, wie gesagt, inspiriert.
Während des libanesischen Bürgerkriegs fand eine enorme Literaturproduktion statt. Man schrieb in völlig veränderter Form, mit für die libanesische Literatur neuen Stilmitteln, zum Beispiel tauchten surreale Aspekte auf, absurde Elemente wurden verwandt. Auch eine extreme Ironie ist zu verzeichnen. Zudem haben vermehrt libanesische Frauen die literarische Bühne betreten. Wie erklären Sie sich das? Auch Ihr erstes Buch ist kurz nach Ende des Bürgerkrieges 1991 erschienen.
Humaidan-Junis: Der Krieg hat die literarischen Traditionen aufgebrochen. Der moderne libanesische Roman ist ein Produkt des Krieges.
Wie ist das zu bewerten?
Humaidan-Junis: Ein Krieg ist niemals, wirklich niemals positiv. Das möchte ich zunächst ganz stark betonen. Aber wenn ich versuche, einen einzigen positiven Aspekt zu erkennen, dann ist es dies. Der Krieg hat die Traditionen aufgebrochen, die sozialen Traditionen und sogar die bis dahin extrem starken gesellschaftlichen Traditionen, die sehr rigiden Festlegungen, wie Männer Frauen wahrgenommen haben. Die Frau ist seither nicht mehr nur Mutter und Ehefrau. Sie ist seither auch ein anderes, ein unabhängig zu sehendes Wesen.
Der Krieg hat eben nicht nur die Sicherheitssysteme der Menschen zerstört. Er hat auch die gesellschaftlichen Normen zerstört. Dadurch ist etwas Neues entstanden. Die Schriftsteller, die Künstler erheben ihre Stimme und sie werden gehört. Es sind ganz verschiedene Stimmen, die sich zu Wort melden. Nun hat der Krieg diese starken, offiziellen Mainstream-Stimmen gebrochen, sie zur Seite geschoben.
Wie äußert sich das konkret?
Humaidan-Junis: Es gibt jetzt zum Beispiel Romane und Erzählungen, die in der Peripherie des Landes spielen. Das hat es vorher gar nicht gegeben, jegliche Kulturproduktion war auf die Stadt beschränkt. Es hat vor dem Krieg keine andere Perspektive, keinen anderen Fokus gegeben. Jetzt werden Geschichten des unbekannten Libanon erzählt, des Underground, wenn Sie so wollen.
Ist das ein Klima, in dem Mädchen und junge Frauen freier aufwachsen als zuvor?
Humaidan-Junis: Ja, tatsächlich. Im Libanon ist alles Peripherie, bis auf das Zentrum – und das ist Beirut. Und seit der modernen Unabhängigkeit des Staates 1943 sind viele libanesische Familien aus ländlichen Gebieten nach Beirut gezogen. Diese Familien erlitten einen Kulturschock durch das urbane Leben. Ihre Kinder haben diesen Schock überwunden, sie sind zu Städtern geworden. Und diese Generation schreibt nun die Geschichte ihrer Familien um.
Gibt es denn Hoffnung, dass diese Generation und auch die von ihnen erwähnten Künstler und Intellektuellen die Geschicke des Landes positiv beeinflussen? Oder ist das eher eine private, bestenfalls kulturelle Angelegenheit?
Humaidan-Junis: Unglücklicherweise ist folgendes passiert: Die Menschen im Libanon fühlen sich seit dem Krieg im Staat nicht mehr aufgehoben. Deshalb ziehen sich auch so viele Libanesen auf die Religion beziehungsweise die religiöse oder ethnische Community zurück und sie definieren sich nicht mehr als Staatsbürger.
Die gesellschaftlichen Gruppen trennen nach wie vor unüberwindliche Grenzen?
Humaidan-Junis: Unglücklicherweise. Und der Grund dafür liegt auf der Hand. So lange das politische System auf dieser sektiererischen und auf Communities aufgebauten Struktur basiert, gibt es keine Veränderung. Sogar die jungen Leute, von denen ich eben sprach, sind weiterhin in ihren Communities gefangen.
Aber, und auch das möchte ich betonen, das bedeutet nicht, dass es keinen dritten Weg gibt für Menschen wie uns. Es gibt diesen Weg und viele Künstler und Kulturschaffende beschreiten ihn. Sie finden solche Stimmen in den Zeitungen auf den Kulturseiten, sie finden diese Stimmen im Film, im Theater. Da ist geradezu ein Boom an differenzierten und unabhängigen Sichtweisen zu vermelden.
Also gibt es auch eine Kommunikation über religiöse Schranken und die, wie Sie es nennen, Community-Grenzen hinweg?
Humaidan-Junis: Ja, die gibt es. Diese Menschen wagen tatsächlich etwas. Sie nehmen nicht nur ihre eigenen Masken ab. Sie blicken auch genau hin, beleuchten auch dunkle Ecken. Sie sagen den Menschen, schaut her, so sieht unsere Gesellschaft aus. Seht hin, das passiert im Libanon. Schaut, wohin uns unser Sektierertum gebracht hat. Seht, wie stark dieses Sektierertum unsere Entwicklung behindert hat.
Sind Sie hoffnungsvoll, was die künftige Entwicklung anbelangt?
Humaidan-Junis: Sehen Sie, als der Krieg im Libanon 1990 endete, wurde eine Abmachung getroffen, dass wir über diesen Krieg nicht sprechen sollten. Der allgemeine Tenor war: Es ist vorbei, wir haben Frieden, lasst uns mit der Vergangenheit abschließen. Aber es gibt natürlich viele Fragen, die durch diese "Schwamm drüber"-Politik unbeantwortet blieben. Und es gibt viele Konsequenzen, die durch den Krieg verursacht wurden. Wir müssen uns damit beschäftigen.
Beschäftigen sich die kulturell arbeitenden Menschen im Libanon mehr mit diesen Fragen als die Politiker?
Humaidan-Junis: Genau so ist es. Weil es ein offizielles Tabuthema war, über die Gründe des Krieges zu sprechen. Niemand wollte das beleuchten. Es bricht aber trotzdem an die Oberfläche und zwar durch Kunst und Literatur.
Wie sehen Sie die Zukunft des Libanon? In welche Richtung entwickelt sich die Gesellschaft? Im Westen betrachtet man die Entwicklung mit Spannung und latenter Sorge.
Humaidan-Junis: Meinen Sie die Befürchtungen, das muslimische Gruppen für Unruhe sorgen oder ein neuer Bürgerkrieg ausbricht? Da kann ich Ihnen eine Sache versichern: Selbst die radikalsten Gruppen im Libanon wissen, dass sie einen Bürgerkrieg nicht gewinnen können. Selbst die Gruppen, die meinen, sie seien die stärksten, unterliegen nicht dem Irrglauben, sie könnten einen Bürgerkrieg gewinnen.
Ich glaube, jeder Libanese hat gelernt, dass der Bürgerkrieg die schlechteste Lösung für ein Land ist. Deshalb versuchen die Gruppen, eine unblutige Lösung zu finden. Und manchmal, wenn ich Radio höre oder Fernsehsendungen schaue, dann scheint mir, als führten die verschiedenen Communities ihren virtuellen Krieg in den Medien, weil sie es nicht auf den Straßen tun wollen.
Da sind Beleidigungen und schlimmste Vorwürfe an der Tagesordnung, aber, bis auf wenige Ausnahmen, wo dieser gesäte Hass auf die Straße überspringt, ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass jede Gruppe darauf bedacht ist, eben nicht noch einmal zum Äußersten zu gehen. Denn da gibt es die Lehre aus dem Jahr 1975.
Trotzdem ist der Staat nicht gefestigt...
Humaidan-Junis: Es gibt einen großen Konflikt. Es geht um Macht im Staat. Es geht darum, wer Entscheidungen fällt. Es gibt nun mal viele Fraktionen im Land.
Was erhoffen Sie sich für Zukunft des Landes?
Humaidan-Junis: Ich hoffe, dass diese neue Generation realisiert, dass wir so nicht weitermachen können, dass wir uns nicht länger darüber definieren können, zu einer religiösen oder ethnischen Community zu gehören. Wir sollten wirklich ganz vehement versuchen, für einen Staat zu arbeiten - einen wirklichen Staat, der bislang nicht existiert. Einen Staat, in dem wir uns alle als Bürger begreifen, nicht als Sektierer. Nicht als Sektenmitglieder, nicht als Mitglieder einer Community, sondern als Libanesen.
Interview: Ariana Mirza
© Qantara.de 2010
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Buchtipp "B wie Bleiben wie Beirut"
Die Stimmen von Beirut
In Iman Humaidan-Junis neuen Roman "B wie Bleiben wie Beirut" werden die traumatischen Jahre des libanesischen Bürgerkriegs von 1975 bis 1990 aus der Sicht von vier Frauen rekapituliert. Angela Schader stellt das Buch vor.
Rashid al-Daif
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Trotz seines literarischen Wandels stehen dem libanesischen Schriftsteller Raschid al-Daif die einstigen Schrecken des Bürgerkriegs in seiner Heimat noch immer deutlich vor Augen. Katja Brinkmann berichtet über Leben und Werk des Autors.
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Noch immer lastet das Erbe des Bürgerkriegs von 1975 bis 1990 schwer auf dem Zedernstaat. Mit einer Fotoausstellung in Beirut wollen jetzt verschiedene Initiativen auf das Schicksal der Verschwundenen aufmerksam machen und die Vergangenheitsbewältigung fördern. Arian Fariborz informiert aus Beirut.