"Ein Denker muss den Glauben in Frage stellen dürfen"

Weil sein Roman "Allahs Töchter" die religiösen Gefühle von Muslimen verletzt haben soll, drohte Nedim Gürsel vor einigen Jahren ein Verfahren. Ein Gespräch über Religion, Literatur und Politik in der Türkei.

Interview von Ramon Schack

​​Herr Gürsel, Ihr neuer Roman "Allahs Töchter" hat Ihnen große Probleme in der Türkei bereitet. Ihnen drohten bis zu drei Jahren Haft, weil Sie angeblich die religiösen Gefühle von Muslimen verletzt haben sollen. Im Juni 2009 wurde das Verfahren zwar eingestellt, aber haben Sie mit einer solchen Entwicklung gerechnet, nachdem Sie den Roman veröffentlicht haben?

Nedim Gürsel: Nein, damit habe ich nicht gerechnet. Dass ein Schriftsteller wegen eines Romans mit einer Gefängnisstrafe bedroht wird, passt nicht zum Bild eines Landes, welches in die EU aufgenommen werden möchte. Ich habe einen Roman geschrieben, und mein ganzes Leben hat sich verändert. Angenehm ist diese Veränderung nicht. Außerdem stelle ich mir die Frage, wie es angehen kann, dass in einem laizistischen Staat wie der Türkei, das so genannte Religionsamt ein Urteil über meinen Roman abgibt?

Das Religionsamt Diyanet ist eine staatliche Behörde, welches in der Türkei über eine staatstragende Ausrichtung des Islam wacht. Wie kommt diese Behörde dazu, ihre Meinung über ein literarisches Werk abzugeben, und sich noch dazu in ein laufendes Verfahren einzumischen?

Was hat dieses Religionsamt konkret zu bemängeln?

Gürsel: Die Gutachter des Religionsamtes haben sich unter anderem darüber beschwert, dass eine meiner Romanfiguren den Propheten Mohammed ein "ignorantes Kind" nennt. In der erwähnten Passage spricht allerdings ein Gegner Mohammeds, von dem man kaum erwarten kann, zumindest nicht in einem seriösen Roman, dass dieser mit Lobeshymnen über den Propheten zitiert wird. Diese ganzen Gründe sind natürlich nur vorgeschoben. In Wirklichkeit geht es natürlich darum, dass der Prophet überhaupt als Romanfigur auftaucht.

​​Der Wirbel um "Allahs Töchter" erinnert ein wenig an die Aufregung um Salman Rushdies "Satanische Verse". Beide Romane spielen im 7. Jahrhundert, und in beiden taucht der Prophet Mohammed als Romanfigur auf. Bei Rushdie regten sich Kritiker über das Buch auf, ohne es gelesen zu haben. Sind Sie in Ihrem Fall zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt?

Gürsel: In der Tat. Der vom Religionsamt mit der Bewertung des Buches beauftragte Experte hat in seinem Bericht so falsch aus dem Roman zitiert, dass ich mir die Frage stelle, ob er ihn wirklich gelesen hat.

Nach dem Erscheinen des Romans wurden Sie in Istanbul der Blasphemie bezichtigt. Medien in Deutschland, Frankreich und der Schweiz haben darüber berichtet. In erster Instanz wurden Sie freigesprochen, allerdings hatten einige Staatsanwälte gegen diese Entscheidung Einspruch eingelegt. Es kam zu einem weiteren Verfahren.

Gürsel: Richtig." Kurz nach dem Erscheinens des Romans, begannen schon die ersten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren. Ich konnte aber am Anfang die Justiz noch davon überzeugen, dass das Buch keine Beleidigungen enthalte. Zu meinem Erstaunen ordnete ein übergeordnetes Gericht dann trotzdem ein Verfahren an. Man kann also davon ausgehen, dass gewisse Kreise die Türkei unbedingt als Land erhalten wollen, in dem Schriftsteller vor Gericht gestellt werden. Diese Zeiten sollten eigentlich vorbei sein.

Nach einer Flut von Prozessen gegen Autoren wie Orhan Pamuk hatte die Regierung die Eröffnung von Verfahren dieser Art erschwert. Allerdings sind die Zusicherungen aus Ankara anscheinend nicht viel Wert. Ich habe daraufhin dem Premierminister Erdogan einen offenen Brief geschrieben.

Hat er Ihnen schon geantwortet?

Gürsel: Bisher nicht. Allerdings habe ich viel Zustimmung und Unterstützung von meinen Lesern erfahren.

Sie selbst leben in Paris, lehren an der Sorbonne türkische Literatur, besitzen neben der türkischen auch die französische Staatsbürgerschaft. Haben Sie möglicherweise aufgrund Ihres Pendelns zwischen diesen beiden Welten zwischen Istanbul und Paris die politischen Realitäten in der Türkei verkannt? Immerhin ist die politische Neuorientierung des Landes, die Transformation der säkular-kemalistischen Staatsdoktrin, nicht zu übersehen.

Gürsel: Übersehen habe ich diese Entwicklung nicht. Möglicherweise habe ich die Dynamik dieses Prozesses unterschätzt. Ich bin aber der festen Überzeugung, ein Autor, Intellektueller oder Denker muss den Glauben in Frage stellen dürfen, wenn er nicht in einem theokratischen Land lebt.

Interview: Ramon Schack

© Qantara.de 2010

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