''Wir müssen die alten Dogmen überdenken''
Ziba Mir-Hosseini gehört zu den bekanntesten Forscherinnen, die sich mit dem islamischen Feminismus beschäftigen. Im Interview mit Yoginder Sikand spricht sie über die Ursprünge und Perspektiven des islamischen Feminismus als Emanzipationsprojekt und seine Bedeutung für ein neues, kontextbezogenes Verständnis des Islam.
In den vergangenen Jahren sind in der ganzen Welt muslimische Frauengruppen entstanden, die sich für Geschlechtergleichheit und Gerechtigkeit einsetzen und dabei islamisch argumentieren. Die meisten werden von Frauen geführt, die einem elitären Milieu oder zumindest der Mittelklasse entstammen. Deshalb scheinen sie in breiteren Schichten auch nicht allzu stark verankert zu sein. Wie erklären Sie sich das?
Ziba Mir-Hosseini: Ich denke, die meisten Frauen, die sich schriftlich und publizistisch mit dem Thema, das gemeinhin als "Islamischer Feminismus" bezeichnet wird, beschäftigen, tatsächlich entweder aus einer elitären oder einer mittleren Schicht entstammen. Andererseits hatte der Feminismus, ganz allgemein gesprochen, immer etwas mit der Mittelklasse zu tun, zumindest wenn man sich die wichtigsten Wortführer und Protagonisten anschaut.
Ich glaube, dass der islamische Feminismus in gewisser Weise das "ungewollte Kind" des politischen Islam ist. Schließlich war es der "politische Islam", der die Fragen von Gender und den Rechten muslimischer Frauen politisiert hat. Der Slogan "Zurück zur Scharia", der von Repräsentanten des politischen Islam so lautstark vertreten wurde, lief in der Praxis auf eine Rückkehr zu den klassischen Texten der islamischen Rechtswissenschaft (fiqh) hinaus; das bedeutetet, Gesetze, die den Frauen Vorteile brachten, wurden aufgegeben, weil sie in der wörtlichen Auslegung der Islamisten keine Zustimmung fanden.
Dies führte - als Reaktion - zur Entstehung eines islamischen Feminismus und zur Kritik an den Islamisten, die den Islam und die Scharia mit einem puren Patriarchat verschmelzen wollen und behaupten, dass die Herrschaft der Männer auf Gottes Willen beruhe.
Die Gender-Aktivisten dagegen bedienten sich islamischer Argumente, um die Islamisten zu kritisieren und herauszufordern; sie rückten klassische Texte des fiqh und tafsir (Koran-Exegese) ins Licht der Öffentlichkeit, um sie zur Diskussion zu stellen. Dabei wurden schon bald alternative, gendergerechte Ansätze, oder vielleicht besser Visionen des Islam vorgestellt. Damit einher ging auch hinsichtlich der beteiligten Klassen eine Verbreiterung des noch in den Kinderschuhen steckenden islamischen Feminismus.
Und doch bin ich mir nicht sicher, inwieweit es dem feministischen Diskurs im Islam bisher gelungen ist, eine größere Reichweite zu gewinnen und auch die so genannten "Graswurzeln" zu erreichen. Eine ermutigende Entwicklung zumindest ist darin zu sehen, dass inzwischen einige NGOs mit muslimischen Frauen arbeiten, die diese Diskurse nutzen und weitertragen; dies geschieht sowohl in einem islamischen wie im Menschenrechtskontext, wodurch die Notwendigkeit von Gendergleichheit und Gerechtigkeit in muslimischen Gemeinden betont wird.
Aber es ist doch sicher nicht möglich, alle Islamisten über einen Kamm zu scheren, oder? Schließlich existiert auch unter ihnen eine Vielzahl verschiedener Meinungen, auch in Bezug auf die Rechte von Frauen. Einige von ihnen scheinen doch zumindest nach außen hin hinsichtlich der Frauenrechte gar nicht so repressiv eingestellt zu sein.
Mir-Hosseini: Das ist sicher richtig. Andererseits ist die Genderfrage für alle Islamisten von allergrößter Bedeutung. Und alle von ihnen, so scheint es doch, beziehen ihre Legitimität zu einem großen Teil aus ihrer Kritik am Westen, wozu vor allem die Forderung nach einer Stärkung der Familie gehört. Sie sagen nicht, dass Frauen keine Rechte haben – die Sprache des politischen Islam ist schließlich auch eine, in der viel von Rechten die Rede ist. Nein, sie behaupten eher, dass der Islam Frauen all die Rechte gibt, die sie brauchen, was aber für die Frauen letztendlich doch auf die immer gleiche Männerherrschaft hinausläuft.
Der Gegensatz zwischen islamischen Feministinnen und patriarchalen Islamisten ist genauso groß wie der zwischen ersteren und vielen anderen Feministinnen, die islamischen Feminismus für einen Widerspruch in sich halten und glauben, dass er langfristig nur den Islamisten in die Hände spielt, wenn er sich auf islamische und nicht auf säkulare Definitionen der Menschenrechte beruft.
Eine Reihe von NGOs, die mit muslimischen Frauen arbeiten, darunter auch einige recht bekannte, die sich dem verschrieben haben, was landläufig als "feministischer Diskurs" bezeichnet wird, sind finanziell stark von westlichen Geldgebern abhängig. Stärkt dies nicht die Argumentation jener, die diese Organisationen beschuldigen, sich von den so genannten "Feinden des Islam" instrumentalisieren zu lassen?
Mir-Hosseini: Natürlich besteht hier die Gefahr, dass dieser so oft zu hörende Vorwurf noch ein wenig häufiger vorgebracht wird; doch anderseits wird doch sowieso jeder, der sich für Gendergerechtigkeit einsetzt, ganz egal ob von ausländischem Geld abhängig oder nicht, derart abgestempelt. Welche Alternative hätten wir also?
Es ist nun mal ein Fakt, dass viele muslimische Frauen in undemokratischen Kontexten leben, ohne starke zivilbürgerliche Institutionen, die sie in ihrer Arbeit unterstützen könnten. Dies zwingt viele mit muslimischen Frauen arbeitende NGOs dazu, sich an westliche Geldgeber zu wenden. Die durch ihr Öl zu Reichtum gelangten Wahhabiten in Saudi-Arabien werden solche NGOs kaum finanziell unterstützen, selbst wenn sie in einem islamischen Rahmen arbeiten. Wichtig aber ist, dass Frauengruppen, die sich mangels Alternativen von westlichen Geldgebern finanzieren lassen, darauf achten, sich nicht von ihnen benutzen zu lassen.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind die wichtigsten Wortführerinnen im islamischen Feminismus nicht-arabische Muslime. Empfinden Sie das nicht als seltsam, zumal doch die arabische Welt im Verständnis vieler arabischer Muslime – und nicht-arabischer im Übrigen auch – das "Kernland" des Islam bildet?
Mir-Hosseini: In der Tat stammen die innovativsten Beiträge zum islamischen Feminismus aus der so genannten "Peripherie" der muslimischen Welt, also aus Ländern wie dem Iran, Indonesien und natürlich von muslimischen Autoren aus dem Westen. Interessanterweise erscheinen deshalb die meisten dieser Werke nicht auf Arabisch, sondern auf Englisch, Farsi oder Bahasa Indonesia. Ich denke, dass die politischen Rahmenbedingungen in der arabischen Welt einfach nicht förderlich sind für eine öffentliche Artikulierung dieses Diskurses. Wer es dennoch versucht, kann dabei durchaus sein Leben riskieren. Sehr leicht wird man dort als vom Glauben abgefallen gebrandmarkt und getötet.
Im Fokus vieler islamisch-feministischer NGOs steht die Reform der Persönlichkeitsrechte in muslimischen Kontexten, die Frauen beeinträchtigen. Glauben Sie, dass dieser Fokus zu eng gesetzt ist? Schließlich sind die Persönlichkeitsrechte nicht das einzige Problem, mit dem muslimische Frauen zu kämpfen haben. Für viele von ihnen dürfte doch beispielsweise eine zermürbende Armut eine viel schlimmere Belastung darstellen.
Mir-Hosseini: Ich denke, dass die Frage der Geschlechterbeziehungen innerhalb der Familie – und darum geht es ja in erster Linie bei den Persönlichkeitsrechten – die Frage der Machtverhältnisse in der Gesellschaft durchaus im Kern berührt. Schließlich bildet die Familie die grundlegende Einheit einer Gesellschaft; nur wenn es innerhalb einer Familie Gerechtigkeit und Demokratie gibt, ist auch in der weiteren Gesellschaft Gerechtigkeit und Demokratie zu erwarten. Mit anderen Worten: Der Schlüssel zur Demokratisierung einer Gesellschaft im Ganzen liegt in der Demokratisierung ihrer Basis, also der Familie. Dies macht eine rechtliche Reform der Persönlichkeitsrechte so wichtig.
Haben islamische Feministinnen letztlich also die gleichen Ziele wie säkulare Feministinnen, argumentieren aber nur anders, eben mit islamischen Argumenten?
Mir-Hosseini: Für mich hat Feminismus zwei Seiten: Zum einen besteht er in dem Bewusstsein, dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts in ihrer häuslichen Umgebung, bei der Arbeit, in der Gesellschaft und in anderen Lebensbereichen, Diskriminierung erleiden, zum anderen in der politischen Arbeit, die darauf abzielt, diese Missstände zu beenden. Feminismus ist damit ein Streben nach Gerechtigkeit und Gleichheit von Frauen innerhalb einer gerechten Welt. Es ist sowohl eine Geisteshaltung wie ein Lebensstil; es ist ein Weg, der von jedem beschritten werden kann – unabhängig von Gender, Geschlecht, ethnische Herkunft, Glauben und anderen Unterschieden, die uns trennen mögen.
Doch Gerechtigkeit und Gleichheit sind kontroverse und relative Begriffe, da sie für unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Dinge benennen. Feminismus besitzt auch einen erkenntnistheoretischen Ansatz, in dem Sinne, dass er uns sagt, wie wir wissen, was wir wissen. Die feministische Wissenschaft im Islam kann, wie die jeder anderen Religion, hier eine Menge beisteuern, und das sowohl zum Verständnis der Religion als auch zum Streben nach Gerechtigkeit. Feminismus als Ideologie, als Bewegung und als Erkenntnisprojekt, braucht, um zu wachsen und um nicht zum reinen Dogma zu werden, die Kritik von innen.
In den 1970er und 1980er Jahren war es der Feminismus der Schwarzen und der "Dritte-Welt"-Gruppen, von denen diese Kritik kam. So zum Beispiel Audre Lordes Kritik der feministischen Mainstream-Literatur der 1960er Jahre mit ihrem Fokus auf die Erfahrungen weißer Frauen aus der Mittelklasse und deren Wertvorstellungen. Chandra Mohanty mit ihrem wegweisenden Artikel "Aus westlicher Sicht: feministische Theorie und koloniale Diskurse" lieferte eine überzeugende Kritik der Zusammenhänge zwischen Feminismus und Kolonialismus. Solche Arbeiten halfen dem Feminismus, auch theoretisch zu wachsen und breitere Schichten zu erreichen.
Was können säkulare Feministinnen von islamischen Feministinnen lernen? Stimmen Sie der pauschalen Kritik säkularer Feministinnen zu, dass die Geschlechterrollen sich im allgemeinen muslimischen Verständnis ergänzen?
Mir-Hosseini: Ich bin ich mir ganz sicher, dass wir alle voneinander lernen können. Was aber den Begriff der "Komplementarität" der Geschlechterrollen angeht, so wie er im herrschenden muslimischen Diskurs verstanden und artikuliert wird, widerspreche ich ganz vehement. Es handelt sich dabei lediglich um neue und "moderne" Begrifflichkeiten, um die Ungleichheit und Diskriminierung von Frauen zu rechtfertigen, die dazu dienen sollen, Frauen und Muslime im Allgemeinen zu täuschen.
Und doch ist die feministische Theorie inzwischen dahin gekommen, anzuerkennen, dass eine Gleichheit, die lediglich auf eine rechtliche und rein formale Umkehrbarkeit der Geschlechterrollen abzielt, den Frauen keine wirkliche Gleichheit bringt. Frauen haben einen anderen Startpunkt im Leben als Männer und es gibt nun einmal keine vollkommen gleichen Wettbewerbsbedingungen zwischen Männern und Frauen; wir brauchen also neue Konzepte, die solche Unterschiede berücksichtigen. So sind eben nicht alle Frauen Diskriminierung ausgesetzt, noch erleben sie eine solche in der gleichen Weise. Soziale Klasse, Bildung, ethnische Zugehörigkeit, Zugehörigkeit zur "Ersten" oder "Dritten Welt" – all diese Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle. Männer werden in vielen Situationen ebenso unterdrückt wie Frauen, ja werden in einigen Fällen sogar von ihnen dominiert.
In der feministischen Theorie hat ein Wandel stattgefunden; formale Gleichheitsmodelle wurden zugunsten von Ansätzen aufgegeben, die sich auf die nun so genannte "substanzielle Gleichheit" berufen. Es gibt eine rege Diskussion zu diesem Thema und Muslime müssen sich an ihr beteiligen. Wir müssen alte Dogmen überdenken, und das gilt für religiöse ebenso wie für feministische, und eben dort können wir voneinander lernen.
Interview: Yoginder Sikand
© Qantara.de 2010
Ziba Mir-Hosseini ist Autorin zahlreicher Bücher, unter anderem von "Islam and Gender, the Religious Debate in Contemporary Islam" (Princeton, 1999). Zurzeit arbeitet sie am Centre for Islamic and Middle Eastern Law an der School of Oriental and African Studies, London.
Übersetzung aus dem Englischen: Daniel Kiecol
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de
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