Ramadan ohne Ramadan
Mit elf Jahren hat er das erste Mal gefastet. Aufgehört mit 31. Wael kommt aus einem konservativen Vorort von Kairo, aus einer Familie, in der das Fasten im Ramadan selbstverständlich war. Dieses Jahr ist sein dritter Ramadan ohne Ramadan.
"Die letzten Jahre, bevor ich die Entscheidung getroffen habe, war ich schon nicht mehr so streng: Da hab ich mir ab und zu einen Tag freigenommen vom Fasten. Als ich dann entschieden habe, gar nicht mehr zu Fasten, hat das außer meiner Frau niemand mitbekommen", erzählt Wael.
"Es wäre mir unangenehm, wenn Leute das wüssten. Sie würden fragen: 'Wael, was ist passiert? Was ist mit deinem Glauben?'. Sie fühlen sich dazu aufgerufen, Dir religiöse Predigten zu halten, das kann ich nicht gebrauchen. Wenn jemand ganz direkt fragen würde, tja, dann würde ich versuchen, mir eine Antwort einfallen zu lassen, die keine Lüge ist."
Die große Mehrheit derjenigen, die als gebürtige Muslime in muslimischen Ländern leben, im Ramadan jedoch nicht fasten, hält es wie Wael: Nur die wenigsten sprechen darüber.
Bei manchen ist klar warum: Das Brechen der religiösen Regel wird oft von ihnen selbst als Sünde angesehen und der Sinn des Fastenmonats keineswegs in Frage gestellt.
Mahmud, ein 25-jähriger Afghane, der in Doha lebt und seit einigen Jahren nicht mehr fastet, spricht über den Ramadan so positiv, als ob er zum Ausgleich für das eigene Nicht-Fasten ein bisschen Werbung machen müsste.
Fasten als Gemeinschaftsritual
"Durch das Fasten sollen wir Mitleid mit denjenigen bekommen, die jeden Tag hungern. Auch der reichste Mann soll die Fähigkeit entwickeln, mit den Armen mitzufühlen. Egal ob er ein Millionär ist oder ein Bettler, ob er in Somalia lebt oder in Afghanistan: Es ist ein Ritual, das über Standes- und Ländergrenzen hinweg Menschen als eine große Gemeinschaft zusammenbringt", erklärt er mit emphatischer Stimme.
Dass er das Ritual selbst nicht einhält, hat mehr mit Pragmatismus zu tun: Er halte den Hunger schlecht aus und faste deshalb nur, wenn er bei seiner Familie sei – die aber ist in Kabul.
Von Muslimen, die das Fastengebot zum Vorschlag umdeuten oder gar den Sinn des Fastens in Frage stellen, distanziert er sich energisch. "Ich faste nicht, aber ich sage deutlich: Es ist eine Pflicht im Islam. Das zu leugnen, ist eine noch viel größere Sünde als nicht zu fasten. Ich weiß, dass ich mich anders verhalten müsste und bewundere diejenigen, die konsequent fasten."
Derzeit arbeitet Mahmud freiwillig zusätzliche Nachtschichten, um nicht tagsüber versteckt auf der Toilette essen zu müssen. Ist er von praktizierenden Muslimen umgeben, lässt er sich nichts anmerken.
"Das Verstecken ist manchmal so kompliziert, dass ich bis zum Iftaar genauso fertig aussehe, wie die, die fasten", sagt er. "Keiner kommt auf die Idee, dass ich gegessen haben könnte."
Der wahrscheinlich größte Teil der Fastenbrecher entwickelt ähnliche Strategien: hier ein Schluck Wasser, bevor man vor Hunger Kopfschmerzen bekommt, dort ein Keks, um sich wieder konzentrieren zu können.
Mildernde Umstände
Mit der Gruppe dieser heimlichen Fastenbrecher wird meist pragmatisch umgegangen. Wird einer in flagranti erwischt, so hat man im Zweifel mildernde Umstände parat: Bei Frauen wird stillschweigend angenommen, dass sie ihre Periode haben, bei Männern Nierensteine oder Diabetes.
"Interessanterweise ist es sozial absolut akzeptiert, aus medizinischen Gründen nicht zu fasten. Das stellt weder die Gemeinschaft, noch das Verhalten der anderen in Frage", sagt Wael.
Das soziale Tabu beginnt dort, wo einer keinen Grund hat außer den eigenen Willen.
"Ich erinnere mich, wie meine Mutter einmal sehr schockiert erzählt hat, sie hätte unseren Nachbarn beim Essen erwischt. Mit Schrecken in der Stimme sagte sie: Das ist doch ein gesunder, erwachsener Mann! Wieso ist der so schwach? Das jemand nicht fastet, weil er am Glauben zweifelt, ist für die meisten nicht vorstellbar."
Genau das aber ist Waels eigener Fall – und unterscheidet ihn grundlegend von Mahmud. Körperliche Schwierigkeiten hatte Wael mit dem Fasten nie, im Gegenteil: "Ich mochte das wirklich gerne. Und ich vermisse bis heute manche Aspekte des Ramadans. Aber ich bin nicht mehr die religiöse Person, die ich früher war und ich kann auch nicht so tun, als ob."
"Es heißt immer, dass Fasten helfe, Willensstärke zu entwickeln, dass es näher zu Gott führe und Solidarität mit den Armen lehre. Das sind alles Rationalisierungen, mit denen man sich das zurechtbiegen kann", sagt er. "Aber wenn es wirklich um diese Dinge geht, dann gibt es viele andere Wege, das alles in sich zu entwickeln."
Diese Gedanken behält Wael gewöhnlich für sich. Nicht mehr zu Fasten ist für ihn reine Privatsache.
Fastenbrechen als Politikum
Anders bei Ibtissame Lachgar. Die 39-jährige Psychotherapeutin aus Rabat ist eine der wenigen, die sich auch öffentlich zu dem Thema äußert – und bei der das Nicht-Fasten auch eine politische Dimension hat.
Sie ist eine der Gründerinnen des "Mouvement alternatif pour les libertés individuelles", kurz MALI, einer Organisation, die sich in Marokko für eine Stärkung individueller Freiheitsrechte einsetzt – darunter das Recht, im Ramadan essen zu können, wann und wo man möchte. Nach derzeitiger Rechtslage kann öffentliches Essen zur Fastenzeit in Marokko mit bis zu sechs Monaten Gefängnis bestraft werden.
"Es wird behauptet, dass 99 Prozent aller Marokkaner im Ramadan fasten – aber ich glaube, da täuschen sie sich gewaltig. Die ein Prozent, die nicht fasten, sind laut offizieller Meinung die marokkanischen Juden, die als Religionsgemeinschaft anerkannt sind. Aber unter den 99% angeblichen Muslimen gibt es viele Agnostiker, viele Atheisten und Marokkaner, die zu anderen Religionen konvertiert sind", meint Ibtissame.
Vor drei Jahren plante MALI im Ramadan ein Picknick zwischen Rabat und Casablanca. Zwar versteckt in einem Waldstück, aber über das Internet angekündigt. Zum tatsächlichen Fastenbrechen vor Sonnenuntergang kam es nie – eine Hundertschaft von Polizisten stellte die Gruppe schon am Bahnhof.
Ibtissame bekam ein mehrmonatiges Ausreiseverbot, Morddrohungen und hasserfüllte E-Mails. Allerdings auch viel Unterstützung – auch von Muslimen, die selbst fasten, den Ramadan aber als individuelle Glaubensentscheidung statt als gesellschaftlichen Zwang verstanden wissen wollen.
"Was mich empört ist, dass die Polizei als staatliche Institution zu einer Moralpolizei wird. Wenn der Staat das öffentliche Einhalten des Fastens kontrollieren darf, dann wäre es nur logisch, wenn sie auch das Einhalten der anderen Pfeiler des Islam kontrollieren würden. Das ist in Nordafrika Gott sei Dank nicht der Fall – aber wenn es so wäre: Willkommen in Saudi-Arabien!", meint Ibtissame.
In den marokkanischen Medien wird MALI entgegengehalten: Es stehe jedem frei, zu Hause zu Essen, das in die Öffentlichkeit getragene Nicht-Fasten sei eine unnötige Provokation, für viele ein Frontalangriff auf den Glauben. Und immer wieder kommt das Argument: Es gäbe doch schlicht wichtigere Themen.
"Gut", antwortet Ibtissame, "aber wenn man findet, dass es wichtigere Probleme in der Welt gibt, dann soll man mir erklären, warum dann ein Fastenbrecher mehr kriminalisiert wird als ein tatsächlichen Straftäter?"
Sicher ist: Der soziale Druck hat zugenommen. Nicht zu Fasten ist heute ein subversiverer Akt als noch vor einigen Jahrzehnten.
Abschied von einer Identität
"Mitte der 1990er gab es in meinem Dorf ein paar Jungs, die im Ramadan öffentlich geraucht haben. Das galt unter uns Jugendlichen damals als unglaublich cool – nicht nur, weil sie so abhängig waren, dass sie nicht einmal bis Sonnenuntergang warten konnten, sondern weil sie derart rebellisch waren, die sozialen Normen zu brechen", erinnert sich Wael.
Wie groß der Tabubruch ist, hängt freilich vom Land und dem jeweiligen Milieu ab: Unter säkularen Irakern Fastenbrecher zu finden, ist keine Schwierigkeit. Unter konservativ erzogenen Ägyptern dagegen ist es eine Seltenheit. Wael etwa kennt außer sich selbst keinen einen einzigen Nicht-Faster – von nicht-muslimischen Ausländern abgesehen.
Ibtissame wiederum hat in ihrem Freundeskreis in Rabat mehr Fastenbrecher als Fastende. Fast alle aber fühlen sich in der eigenen Gesellschaft im Ramadan wie fehl am Platz.
"Die religiöse Identität ist aufs engste mit der nationalen, kollektiven Identität verbunden. Ein Marokkaner, der sich nicht als Muslim sieht – das wird als ein Verrat der Nation, der ganzen Gemeinschaft angesehen", meint Ibtissame. "Man wird zum Abtrünnigen."
Waels gradueller Abschied vom Ramadan ist deshalb mehr als nur der Bruch mit einer Regel. Es ist der Abschied von einer Identität.
"Wenn alle um Dich herum etwas machen, was Du nicht mehr machst, dann fragst Du Dich: Wer bin ich eigentlich? Was, wenn ich eine ganz andere Sicht auf die Dinge habe als die Gruppe? Das ist ein schmerzhafter Denkprozess, den viele lieber vermeiden. Sie sagen sich: Ich mache lieber mit dem weiter, was alle von mir erwarten. Ansonsten kommt der Moment, in dem man feststellt: Vielleicht gehöre ich nicht mehr zu dieser Gruppe. Vielleicht bin ich einfach kein Muslim mehr."
Stephanie Doetzer
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Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de