Säubert Erdoğan türkische Staatstheater?
"Wir sind mit großer Hoffnung ins neue Jahr gestartet, da wir erwartet haben, bald fest angestellt zu werden", klagt ein 30-jähriger Schauspieler, der vom Staatstheater ohne jede Vorwarnung entlassen wurde. Der Künstler, der anonym bleiben möchte, spielte sechs Tage die Woche, hatte Hauptrollen in zwei verschiedenen Stücken.
Sein Alltag wurde plötzlich erschüttert. "Ich wurde offensichtlich einer Sicherheitsprüfung unterzogen. Wir sind alle sehr angespannt, weil keiner weiß, was uns überhaupt zur Last gelegt wird. Diejenigen, die nicht auf der Liste standen, sind besorgt, weil es auch sie jeden Moment treffen kann."
Eine unglückliche Wendung
Dabei sollte 2020 eigentlich ein erfreuliches Jahr für die Bediensteten der staatlichen Bühnen werden - die Politik kündigte eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen an: Am 26. Dezember wurde ein Amtsblatt mit dem Titel "Änderungen der Richtlinien für die Beschäftigung von Vertragsbediensteten" publik; eine Maßnahme, die es - dem Anschein nach - ermöglichen sollte, an Staatstheatern mehr Festanstellungen zu vergeben.
"Einige unserer Künstler und technischen Angestellten haben ohne einen klaren Status (an den Staatstheatern) gearbeitet; jetzt werden sie auf vertraglicher Basis zu unserem Personal", kommentierte der Kultur- und Tourismusminister Mehmet Nuri Ersoy die Entscheidung. "Alle Sorgen um die Arbeitssicherheit wurden beseitigt, das Arbeitsleben unterliegt jetzt der Garantie unseres Staates", so gibt sich Ersoy gönnerhaft.
Folglich boten die Intendanten der Staatstheater ihren Angestellten an, sich im Zeitraum zwischen dem 26. und 30. Dezember für eine Festanstellung zu bewerben. Viele taten das, machten sich Hoffnung. Im neuen Jahr wurden sie dann böse überrascht: mindestens 150 Angestellte an Staatstheatern, Staatsopern oder im Ballett wurden fristlos entlassen, aus unbekannten Gründen.
Ein gelber Brief mit verheerender Wirkung
"Die Beschäftigung des Vertragspersonals wurde im Rahmen der Beschäftigungsbedingungen nicht vom Intendant genehmigt", lauteten die schlichten Worte in dem gelben Brief, der ihnen unerwartet in die Hand gedrückt wurde und ihre Entlassung besiegelte. Über die genauen Gründe ließ man die Theater-Angestellten jedoch vollkommen im Dunkeln.
"Vor einem Jahr wurde mir persönlich mitgeteilt, dass Vollbeschäftigungen vergeben werden. Daran habe ich dann mich voll und ganz meine Zukunftspläne ausgerichtet", beschwert sich ein Schauspieler, dessen gelber Brief ihm unmittelbar nach einem Bühnenauftritt überreicht wurde.
Die Theaterschaffenden mutmaßen über die Motive ihrer Entlassungen. Viele glauben, dass es sich um eine späte Abrechnung mit denjenigen handelt, die an den Gezi-Protesten im Jahr 2013 teilgenommen und sich damals damit gegen die Regierung gestellt haben.
"Enorme Zukunftsängste"
"Es gab zwar keine Begründung, die der Kündigung beigefügt wurde. Doch es heißt, dass es einen Zusammenhang mit einer Sicherheitsuntersuchung gibt. Es wird viel spekuliert, da die Lage so intransparent ist", sagt Sercan Gidisoglu von einer türkischen Schauspieler-Gewerkschaft. Genaue Zahlen darüber, wie viele Entlassungen von Theaterschaffenden es gegeben hat, gebe es laut Gidisoglu nicht.
Sie hätten beim Kulturministerium nach den Gründen für die Entlassungen gefragt, da sie davon ausgegangen seien, dass die Entscheidungen nicht von den Intendanten der Staatstheater gefällt wurden. Das momentane Klima sei sehr beunruhigend. "Diejenigen, deren Verträge gekündigt wurden, haben kein einheitliches Profil. Weil es jeden treffen kann, geht eine enorme Zukunftsangst um."
Ein Schauspieler, der sich auf eine Festanstellung beworben hatte, weist darauf hin, dass die Vertragsvergabe in letzter Zeit ungerechter geworden sei: "Früher gab es noch eine Eignungsprüfung des Personals. Heute wird das Personal von oben bestimmt, ohne Berücksichtigung, ob ein Abschluss von einem Konservatorium vorliegt." Es ginge darum, dass von jetzt an Gleichgesinnte die Stellen übernehmen, mutmaßt der junge Schauspieler. "Es gibt von vorne bis hinten schiere Ungerechtigkeit."
Erdoğans langer Arm reicht bis auf die Bühne
Kritiker gehen davon aus, dass die türkische Regierung ihre Dominanz auch im kulturellen und sozialen Bereich ausbauen möchte. Einige Schauspieler zeigten sich besorgt darüber, dass die Zensur an Staatstheatern zunimmt. Bei der Auswahl von Theaterstücken gebe es bereits Einmischungen von der Politik. Der türkische Drehbuchautor Memet Baydur etwa klagt, dass er das Theaterstück "Kamyon", das er den aus ihrer Heimat vertriebenen Dorfbewohnern widmet, nicht aufgeführt werden könne.
"Zurzeit kann das Stück 'Kleine Bürgerliche Hochzeit' nicht gespielt werden, weil der Hauptdarsteller auch entlassen wurde. Zudem war das Stück vielen ohnehin zu freizügig", so der Autor.
Baydur meint, dass in den Staatstheatern eine enorme Selbstzensur vorherrsche. "Die Selbstzensur wird mit den aktuellen Entwicklungen weiter zunehmen." Ausschlaggebend sei nach Darstellung Baydurs der Einfluss der Kommunikationsbehörde des Präsidenten (CIMER): "Es gibt stets Leute, die sich bei CIMER beschweren. Der Druck hat im Laufe der Zeit zugenommen und wird wohl noch weiter zunehmen."
Die Umstände der Entlassungen der Theaterschaffenden bleiben weiterhin undurchsichtig. Auf der offizielle Webseite der türkischen Staatstheater ist nur ein vager Hinweis zu erkennen: "Ab dem 1. Januar 2020 muss das zuständige Personal gemäß Artikel 8 der Richtlinien für die Beschäftigung von Vertragspersonal bestimmte Anforderungen erfüllen."
Die Abgeordneten Baris Atay von der Arbeiterpartei der Türkei (TIP) und Alpay Antmen von der sozialdemokratischen Partei CHP stellten eine parlamentarische Anfrage an Kultur- und Tourismusminister Ersoy. Sie wollen Klarheit über die Entlassungen erlangen. Besonders bestehe Klärungsbedarf darüber, wer genau die frei gewordenen Stellen in den Staatstheatern erhalten werde.
Pelin Ünker
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