Rückkehr zu den eigenen Prinzipien
Bahman Nirumand bezeichnet sie als eine der "wunderbarsten Errungenschaften, die die Menschheit nach Jahrtausenden ihrer Geschichte hervorgebracht hat": die Menschenrechte.
Doch was sei diese Errungenschaft wert, wenn der Westen – als Wiege von Demokratie und Menschenrechten – nicht selbst sein Handeln nach diesen Prinzipien ausrichte? Oder noch schlimmer: Wenn der Westen unter ihrem Deckmantel einzig und allein seine eigenen Interessen, ob ökonomischer oder geopolitischer Natur, verfolge?
Nirumand konzentriert sich in seinem neuen Buch auf das Verhältnis westlicher Staaten zum Nahen Osten, wobei er detailliert, faktenreich und kritisch die Politik der USA und Europas in der Region hinterfragt. Es drängt sich die Frage auf, ob der Westen sein altes koloniales Denken jemals überwunden hat.
Feindbild Islam
So wird als Beispiel George W. Bush zitiert, der im Rahmen des nach den Anschlägen vom 11. September ausgerufenen "Kampfs gegen den Terrorismus" von einem "Kreuzzug gegen die Barbarei" sprach, während sein italienischer Amtskollege Berlusconi die "Vorherrschaft und Überlegenheit unserer westlichen Zivilisation" hervorkehrte, auf Grund derer man die islamischen Gesellschaften "verwestlichen" müsse. Der Islam wurde zum großen Feindbild stilisiert.
Nirumand jedoch geht einen Schritt zurück und fragt, worin Radikalisierung und Terrorismus tatsächlich ihren Ursprung haben. Der Islam selbst sei dabei nicht der Grund, sondern nur das Mittel: "Natürlich kann sich jedes Verbrechen im religiösen Gewand verhüllen, nämlich dann, wenn sich der Glaube in eine Ideologie verwandelt und politisch instrumentalisiert wird."
Seiner Meinung nach bedarf es zur Entwicklung radikaler Vorstellungen und Absichten einer Atmosphäre der Unzufriedenheit, des Hasses oder der Verzweiflung – ein Zustand, wie er im Irak, in Afghanistan oder den palästinensischen Gebieten unzweifelhaft vorherrsche. Aber woher stammt diese Abneigung? Und wer erzeugt diese explosive Stimmung?
Nirumands Urteil ist hart und eindeutig: Er beabsichtige nicht, die herrschenden – oder ehemals herrschenden – Despoten der arabischen Länder jeglicher Verantwortung für die sich zuspitzende Lage zu entheben. Jedoch sei unbestreitbar, dass der Westen durch seine unbeirrte Verfolgung eigener Interessen die Krise in der Region begünstigt und zur Erschaffung des eigenen Feindes, den "Terrorismus", beigetragen hat.
Westliche Eigennützigkeit und doppelte Standards
Die umstrittenen Kriege in Afghanistan und Irak, die Verteufelung des Iran als Weltbedrohung, die uneingeschränkte Parteinahme für Israel und die Ignoranz gegenüber dem Los der Palästinenser – all diesen Vorgängen und Einstellungen liege die westliche Eigennützigkeit zugrunde, argumentiert Nirumand. Die angebliche Prämisse der Förderung von Demokratie und Menschenrechten spiele in Wahrheit nur eine geringe Rolle, wenn sie nicht gänzlich ignoriert wird.
Zudem habe sich der Westen selbst moralisch-ethische Vergehen zuschulden kommen lassen, wie etwa die Folterungen an irakischen Gefangenen in Abu Ghraib. "Die eklatante Missachtung moralisch-ethischer Prinzipien hat nicht nur dem Ruf des Westens, allen voran den USA, die einst als Wiege der Freiheit und der Demokratie galten, einen tödlichen Schlag versetzt. Welcher Potentat würde heute noch Vorwürfe des Westens, Menschenrechte zu verletzen, ernst nehmen?"
Auch der von westlichen Regierungen in großem Stil betriebene Waffenhandel in die nahöstliche Krisenregion konterkariert zweifelsohne die auf die eigenen Fahnen geschriebenen Prinzipien und das erklärte Ziel der Stabilität in den arabischen Staaten.
Verlust der Glaubwürdigkeit
Nirumand verurteilt zudem die ethisch nicht vertretbaren "Partnerschaften", die westliche Länder zu autokratischen Regimes wie etwa Saudi-Arabien oder den Golfstaaten unterhalten. "Dürfen Staaten, die sich zu Menschenrechten, zu Demokratie und Freiheit bekennen, mit diesem Land [Saudi-Arabien] Freundschaft schließen und eng zusammenarbeiten? Die Antwort, die der Westen gibt, lautet: Ja, sie dürfen, wenn es ihren ökonomischen und geostrategischen Interessen dient."
Wie schnell solch eine "strategische Partnerschaft" kippen und ein enger Verbündeter sich als gefährlicher Despot entpuppen könne, zeigten der Fall Saddam Hussein oder die im Zuge des Arabischen Frühlings gestürzten Diktatoren.
Nirumand meint: "Entgegen den Beteuerungen ihrer Regierungen haben westliche Staaten nie ernsthaft eine Strategie der Demokratisierung im Nahen und Mittleren Osten verfolgt."
Die diktatorischen Regimes dieser Länder hätten für den Westen verlässliche Partner dargestellt, ihr Sturz galt nicht als vorteilhaft und erstrebenswert. "Als sie [die westlichen Regierungen] jedoch merkten, dass ihre langjährigen Komplizen nicht mehr zu halten waren, ließen sie sie fallen. Ja, mehr noch, sie bekundeten ihre Solidarität mit den Aufständischen, versprachen jede Unterstützung, während sie hinter den Kulissen alles unternahmen, damit ihre Interessen trotz des Machtwechsels gewahrt blieben."
Kurskorrektur in der Außenpolitik
Wie kann der Westen in dieser Situation wieder Glaubwürdigkeit in der Region erlangen? Nirumand ist der Auffassung, dass der Westen endlich einsehen sollte, dass die Zeit des Kolonialismus längst vorbei ist: "Er muss die Länder außerhalb der westlichen Hemisphäre als gleichberechtigte Partner akzeptieren und in der Beziehung zu ihnen glaubwürdig und nicht nur verbal jene Werte und Prinzipien vertreten, die er für sich in Anspruch nimmt. Statt Diktaturen aufzubauen und zu unterstützen, sollte der Westen jenen Massen helfen, die nach Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie streben."
Auch sollten die Menschen in den arabischen Umbruchstaaten technisch und wirtschaftlich unterstützt werden, was Bildung und Wohlstand in der Region fördern und diese Länder somit auf längere Sicht zu wichtigen Partnern für den Westen machen würde. Gleichzeitig sei dies auch die effektivste Art, Terrorismus und Fundamentalismus entgegenzuwirken, so Nirumand.
Zweifelsohne trägt Nirumand seine Analysen fundiert und überzeugend vor. Doch so berechtigt seine Kritik an der mangelhaften Menschenrechtsorientierung westlicher Politik im Mittleren Osten erscheinen mag, so vage bleiben seine Lösungsansätze, die doch in einigen Fällen einer Konkretisierung in Form eindeutiger Handlungsempfehlungen bedürft hätten.
Nichtsdestotrotz profitiert der Leser in jedem Fall von Nirumands Expertise und seinem Vermögen, komplexe Sachverhalte verständlich darzustellen und vor allem uns "Westlern" die Grundsätze eben jener Menschenrechte und Freiheiten vor Augen zu halten, die wir oft zu leichtfertig im Munde führen. Angemessen sind die Aufrufe zu mehr Selbstkritik, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit in der westlichen Nahostpolitik heute allemal – und der Appell, diese noblen Begriffe nicht als "Alibi" zu verwenden.
Laura Overmeyer
© Qantara.de 2012
Der 1936 in Teheran geborene Bahman Nirumand ist Schriftsteller und Publizist. Er schreibt u. a. für den Spiegel, Die Zeit und die taz. Er ist Verfasser des Iran-Reports der Heinrich-Böll-Stiftung. In der jüngst erschienenen Essay-Reihe "Standpunkte" veröffentlicht die Körber-edition Analysen und kritische Denkansätze zur westlichen Außenpolitik.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de