Verschwunden in den Kellern des Assad-Regimes
Eine Reise zurück in die alte Heimat wurde ihm zum Verhängnis. Als Mohammad Ghouzi nach Abschluss des Medizinstudiums seine Geburtsstadt Aleppo Richtung Deutschland verließ, war ihm noch nicht klar, dass er soeben den Grundstein für ein neues Leben gelegt hatte. Zunächst arbeitete er als Chirurg in mehreren deutschen Krankenhäusern. Dann gründete er eine Klinik in Wuppertal, um so seine sechs Kinder nach Deutschland holen zu können. Dort, so wünschte er es, sollten sie ihre Ausbildung erhalten.
Der Wunsch ging in Erfüllung: Drei seiner Kinder studierten Medizin, einer wurde Rechtsanwalt, ein weiterer arbeitet in hoher verantwortlicher Position in einer deutschen Bank. Und der jüngste Sohn ging in die Wissenschaft.
In den 1990er Jahren, während des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien, reiste Mohammed Ghouzi nach Bosnien, um dort Kriegsopfern ärztliche Hilfe zu leisten. Er sei ein begeisterter Arzt gewesen und habe auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten und in Saudi-Arabien gearbeitet, berichtet sein Sohn Schahid.
Wie jeder Migrant verspürte auch Ghouzi Sehnsucht nach der alten Heimat. So entschloss er sich, nach Syrien zurückzukehren, um Kindheitsfreunde, Familie und Verwandte zu sehen. Inzwischen hatte er ein zweites Mal geheiratet. Das erleichterte den Aufbau der neuen Existenz. Auch in Aleppo gründete er eine Klinik.
Im Jahr 2012 reiste Ghouzi noch einmal nach Deutschland. Die Tochter heiratete, und der Vater wollte an der Hochzeit teilnehmen. Zurück in Aleppo, wurde er im Juni jenes Jahres von der syrischen Staatssicherheit verhaftet und ohne Angaben von Gründen verschleppt.
Ein Heer von "Verschwundenen"
Auf diese Weise geriet Mohammed Ghouzi in das riesige Heer der in den Gefängnissen des Regimes Verhafteten – nach Schätzungen syrischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen handelt es sich um über 100.000 Personen. Der bekannte syrische Anwalt Michel Schamas geht allerdings von wesentlich höheren Zahlen aus.
Schamas unterscheidet zwischendrei Gruppen von Verschwundenen und Verhafteten. Am schlimmsten stehe es um jene Personen, die in den Gefängnissen des Regimes einsäßen. Die Regierung Assad versuche, die Dimensionen herunterzuspielen und spreche von rund 50.000 Gefangenen.
Eine weitere Gruppe seien jene, die sich in Händen der bewaffneten Opposition befinden. Auch einige dieser Verbände begingen schwere Menschenrechtsverletzungen. Schamas geht davon aus, dass diese Verbände rund 2.000 Personen in ihrer Gewalt haben. Auch deren Schicksal ist offen.
Eine dritte Gruppe umfasse Personen, die während der bewaffneten Auseinandersetzungen verschwanden. Sie wurden etwa an Straßensperren entführt. Auch ihr Verbleib ist unbekannt.
Folter und Massenmord in den Gefängnissen
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) dokumentiert die Misshandlung von Verschwundenen. Dazu nutzt sie ihr zugespielte Fotos von misshandelten Gefangenen. Für HRW sind sie ein eindeutiger Beweis, dass in den Gefängnissen des Regimes gefoltert wird – für die Menschenrechtsorganisation ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch spricht sie von Massenmord und Folter in den syrischen Gefängnissen.
Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International dokumentiert das Schicksal verschwundener Bürger. Die Regierung lasse missliebige Personen ganz bewusst verschwinden, um Oppositionelle auf diese Weise einzuschüchtern.Diese systematische Praxis des Verschwindenlassens ist ein kalt kalkulierter Angriff auf die Zivilbevölkerung Syriens, um Terror zu verbreiten und jeden Widerspruch im Keim zu ersticken. Es sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit", so Philip Luther, Direktor des Programms für den Mittleren Osten und Nordafrika bei Amnesty International.
"Handel mit menschlichen Gefühlen"
Das Assad-Regime lässt Menschen nicht nur verschwinden. Einige seiner Mitglieder versuchen darüber hinaus, das Leid der Angehörigen auszunutzen. Ihnen bieten die Erpresser an, gegen erhebliche Geldsummen angebliche Informationen über den Aufenthaltsort der Vermissten zukommen zu lassen. Sämtliche dieser Angebote haben sich bislang als betrügerische Tricks erwiesen. Kriminelle und Regime-Angehörige trieben "Handel mit menschlichen Gefühlen", beschreibt Anwalt Michel Shamas diese Praxis.
Inzwischen, berichtet Amnesty International weiter, habe sich ein regelrechtes Netz von Personen gebildet, die ihre Kontakte zu den Behörden dafür missbrauchten, den Angehörigen für Beträge zwischen einigen hundert und mehreren zehntausend US-Dollar Informationen über den Verbleib oder den Tod der Vermissten zu verkaufen.
"Ein Mann, dessen drei Brüder 2012 verschleppt wurden, zahlte insgesamt 150.000 US-Dollar, um Informationen über ihren Verbleib zu erhalten - ohne Ergebnis. Er versucht nun in der Türkei, seine Schulden abzuarbeiten", schreibt Amnesty.
50.000 Dollar für ein Lebenszeichen
Auch er habe ein entsprechendes Angebot enthalten, berichtet Ammar Ghouzi. Eine dem Regime nahestehende Person habe ihm Informationen über den Verbleib seines Vaters angeboten. "Im Gegenzug sollte ich 50. 000 Dollar zahlen. 20. 000 vorab und den Rest nach Erhalt der Informationen." Auf den Rat von Experten und Verwandten hin habe er das Angebot aber abgelehnt. Alle hätten ihn gewarnt, denn solche Angebote hätten sich bislang ausnahmslos als unseriös erwiesen.
Die meisten derer, die solche Angebote unterbreiten, stammten aus Kreisen der syrischen Geheim- und Sicherheitsdienste, sagt Rechtsanwalt Shamas, der in Syrien viele politische Gefangene vertrat. Ihre angeblichen Informationen dienten allein dazu, die Betroffenen zu betrügen.
Hilflose UN
Er habe die Dokumentation der "Verschwundenen" dem UN-Sonderbeauftragten für Syrien, Staffan di Misura übergeben, erklärt Schamas. Auch dessen Vorgänger Kofi Anan und Lakhdar Brahimi hätten die Dokumentation erhalten. Alle drei hätten sich über den Umfang des Verbrechens erschüttert gezeigt. Geschehen sei aber nichts.
Amar Ghouzi hat sich mit der Bitte um Unterstützung an das Auswärtige Amt gewandt. "Ich habe dort erklärt, dass mein Vater deutscher Staatsangehöriger ist. Darum sei das Ministerium dazu verpflichtet, entsprechende Nachforschungen anzustellen. Die Verantwortlichen haben erklärt, dem Fall nachgehen zu wollen. Doch geschehen ist auch hier bislang nichts.
Amar Ghouzi sucht seinen Vater nun auf eigene Faust. Die Hoffnung, ihn lebend zu finden, hat er nicht aufgegeben.
Hasan Hussain
© Deutsche Welle 2016
Übersetzung aus dem Arabischen: Kersten Knipp